Verschlossen in der Tradition

Manche haben keine Klitoris mehr, anderen fehlen die Schamlippen. Als Zeuginnen treten junge Frauen aus afrikanischen Familien in dem ersten Strafprozeß wegen Genitalverstümmelung in Frankreich auf  ■ Aus Paris Dorothea Hahn

Fühlen Sie Sich verstümmelt?“ Der dritte Geschworene von links, ein blasser junger Mann, sagt seine Frage hastig auf. „Nein“, antwortet die hochschwangere junge Afrikanerin im Zeugenstand vor ihm. Laut, fast pampig, fügt sie hinzu: „Ich fühle mich so, wie irgendeine andere Frau auch.“ „Sind Sie zufrieden mit Ihrem Sexualleben?“, hakt der lispelnde Staatsanwalt nach. „Völlig“, entgegnet Sira knapp. „Würden Sie auch Ihre eigene Tochter beschneiden?“, kommt als nächstes. „Nein“, antwortet sie gedehnt, „aber da hat jeder seine eigene Art zu denken. Für Sie ist das eine Verstümmelung. Für uns nicht.“

Die Zeugin ist entlassen. Mit wiegenden Schritten trägt sie ihren in leuchtendes Orange gehüllten Körper in den Zuschauerraum, wirft einen Kaugummi in den Mund und setzt sich breitbeinig in die erste Reihe. Das Gericht ist wieder nicht weiter gekommen.

Das geht seit Tagen so. Junge Mädchen und Frauen aus afrikanischen Familien in Paris defilieren an dem Schwurgericht vorbei. Sie alle sind in ihrer Kindheit in Frankreich beschnitten worden. Ihre Geschlechtsteile sind verstümmelt. Manche haben keine Klitoris mehr. Anderen fehlen die kleinen Schamlippen.

„Das sexuelle Empfindungsvermögen von beschnittenen Frauen ist beeinträchtigt“, erklärt eine medizinische Sachverständige dem Gericht die Folgen einer Exzision, die in Frankreich 10.000 bis 20.000 Frauen, weltweit rund 135 Millionen Frauen erlitten haben, „ihr Leben lang haben sie Schmerzen – bei der Menstruation, beim Geschlechtsverkehr, beim Wasserlassen und vor allem bei Geburten, bei denen die Austreibung länger als üblich dauert und jedes Mal die hart vernarbten Wunden aufreißen, statt sich zu dehnen.“

„Nach einer Beschneidung ist ein kleines Mädchen verändert. Es ist zerbrochen“, berichtet eine Gynäkologin dem Gericht, „es hat eine Erfahrung von unerklärter und nicht gerechtfertigter Gewalt gemacht. Das bleibt.“

Doch die Zeuginnen, die zugleich Opfer sind, sprechen keinen Vorwurf an die Adresse der TäterInnen aus. Nicht an die 23 Mütter, die in bunten Boubous, mit dickem leuchtenden Goldschmuck und hinter dem Kopf zusammengeknoteten Tüchern auf der hölzernen Anklagebank sitzen. Nicht an die mitangeklagten drei Väter. Auch nicht an die 52jährige Hauptangeklagte, die Beschneiderin Hawa Gréou, die die meisten von ihnen mit Rasierklinge und Hühneraugenskalpell bearbeitet hat.

Umgekehrt findet keiner er Angeklagten ein Wort des Bedauerns über die Verstümmelung der jungen Frauen. Wenn eine der 27 Angeklagten vor dem Gericht spricht, dann in Soninké, der Sprache ihrer Heimatregion in Mali, Senegal und Mauretanien. So muß der Übersetzer dem rein weiß besetzten Schwurgericht ausrichten, daß die Angeklagten die „Tradition“ befolgten. Daß sie überzeugt waren, den kleinen Mädchen etwas „Gutes“ zu tun. Daß unbeschnittene Frauen keinen Mann finden. Und daß sie nichts von einem Verbot der Beschneidung in Frankreich gewußt hätten, nichts davon, daß auf „mutwillige Verstümmelung“ bis zu 15 Jahre Gefängnis stehen.

Bloß die Beschneiderin Hawa Gréou, in deren Adreßbuch die ErmittlerInnen die Namen der Mitangeklagten gefunden haben, schert aus der Clandisziplin aus. Gréou will die komplette Verantwortung auf sich nehmen. Aber auch sie entschuldigt sich nicht bei den Opfern, sondern bei Frankreich, „gegen dessen Gesetze ich offenbar verstoßen habe“.

Die Anklagebank ist eine geschlossene Welt im Gerichtssaal. Da tuscheln zwei bis drei Frauen vernehmlich und lange miteinander. Da gucken andere weg, wenn sie angesprochen werden. Da fallen bunt betuchte Köpfe für mehrere Stunden zum Schlaf auf die Knie herunter. Da rutschen Frauen weg, wenn sich der Übersetzer ihrer Bank nähert, als ginge sie ihr eigenes Verfahren nichts an.

Das Gericht soll spüren, wie sehr die Angeklagten dieses Verfahren für überflüssig halten. Noch bei den Vorermittlungen drückten sich viele von ihnen auf Französisch aus und erschienen in europäischer Kleidung zu den Vorladungen bei den Gerichtsexperten. Jetzt haben sie sich für das Gericht in ihrer Kultur eingeigelt.

Auch die meisten Zeuginnen haben sich in diese hermetisch abgeriegelte Welt geflüchtet. An ihre Beschneidung will sich keine von ihnen mehr erinnern. Mit ihren Folgen wollen sie sich arrangiert haben: „Was geschehen ist, ist geschehen.“ Als sie sagen soll, ob auch ihre auf der Anklagebank sitzende Mutter beschnitten sei, entgegnet eine junge Frau: „Das ist eine respektlose Frage.“ Eine andere patzt das Gericht an: „Darüber spricht man bei uns nicht.“

Der größte Beschneidungsprozeß der Geschichte. Und der erste, der von einer beschnittenen Frau aus der afrikanischen Gemeinschaft in Frankreich ausgelöst worden ist, droht, im Gerichtssaal an der Konfrontationslinie Europa gegen Afrika zu scheitern. Die Strategie der Verteidigung, wonach keine der Angeklagten subjektiv etwas Böses habe tun wollen und es sich bei der Anklage um eine Art koloniale Einmischung handele, scheint aufzugehen.

Da kommt Maimona. „Ich bin 1978 geboren. Ich arbeite in der Kleiderbranche. Ich bin beschnitten“, stellt sie sich am siebten Verhandlungstag im Zeugenstand vor. Die winzige Person trägt einen schwarzen Hosenanzug und hat ihre Haare glatt gezerrt und mit Klammern eng an den Kopf gelegt.

„Ich war fünf“, sagt Maimona dem Gericht. „Ich erinnere mich an ein Badezimmer, an Kacheln an den Wänden, an ein feuchtes Plastiktuch auf dem Boden. Eine Frau hat meine Beine gespreizt.“ Die anderen Einzelheiten sind ihr entfallen. Das Werkzeug der Beschneiderin? Das sei „ein Stück Glas oder eine Klinge“ gewesen, sagt Maimona.

Die junge Frau ist die erste, die über ihre eigene Beschneidung „eine Verstümmelung“ nennt. Die erste, die ernsthaft eine Antwort auf die Frage sucht, „wann“ es ihr heute weh tue. „In bestimmten Momenten“, sagt sie. Die Richterin hakt nach: „Hat das mit Sexualität zu tun?“ Maimona nickt.

Aber als ein Geschworener sie fragt, ob sie eine eigene Tochter auch beschneiden würde, antwortet sie erst nach langem Zögern: „Ich glaube nicht.“ Die Vorsitzende Richterin will nicht glauben, daß sie keine Gewißheit darüber hat. „Ist das wirklich so wichtig?“ fragt Maimona zurück. „Ja“, entgegnet die Richterin.“ „O.k.!“ Maimona holt tief Luft und stößt heraus: „Natürlich werde ich das niemandem antun. Ich weiß doch, daß ich bis zu meinem Tod körperlich und seelisch leiden werde.“ Die Gesichter der Geschworenen erstarren. Der Staatsanwalt hat Tränen in den Augen, während er die Zeugin fragt, ob sie das politische Engagement gegen die Exzision verstehe. Auf der Anklagebank zischt eine Frauenstimme: „Idiotin!“

Maimona redet weiter. Sie selbst, sagt sie, habe erst bei Beginn der Ermittlungen erfahren, daß die Beschneidung in Frankreich verboten sei. Aber sie sei „ganz sicher“, daß ihre Mutter und die Beschneiderin „damals“ wußten, daß sie gegen das Gesetz verstießen. „Warum sonst taten sie es in einem Badezimmer, statt in einem Krankenhaus?“, fragt die junge Frau.

Mit ihrer Aussage tritt das Verfahren in eine andere Phase. Erinnert sich der Gerichtssaal daran, daß die Beschneidung auch ein Konflikt zwischen AfrikanerInnen ist. Auf der letzten Bank im Zuschauerraum, wo mehrere Männer in langen Djellabahs das Verfahren aufmerksam verfolgen, verdrehen sich jetzt die Hälse, um das Gesicht der jungen Frau genau zu sehen. Maimonas Mutter, die fünfzigjährige Djenaba Koita, die in ein weinrotes Tuch gehüllt neben ihrem ebenfalls unter Anklage stehenden Mann Macire sitzt, erhebt sich in der Anklagebank. Drohend streckt sie ihren rechten Zeigefinger in Richtung des Zeugenstandes aus, wo wenige Minuten zuvor ihre Tochter gesprochen hat. Wütend spricht sie auf Soninké über ihre „Schande“ und die ihrer Familie. Zu ihrer eigenen Verteidigung sagt sie nichts.

Wie die meisten Frauen auf der Anklagebank ist Djenaba Koita schon vor ihrer Volljährigkeit verheiratet worden. Ihr Gatte hat sie direkt aus einem malischen Dorf nach Frankreich geholt. Ihre Töchter sind in Paris geboren und dort durch die Hände der Beschneiderin Gréou gegangen.

Aus der ganz gewöhnlichen Einwanderungsfamilie Koita, die jahrelang mit ihren sieben Kindern eine Einzimmerwohnung in Paris bewohnte, kam auch der Impuls zu diesem Prozeß vor dem Pariser Schwurgericht. Es war Maimonas ältere Schwester Mariatou, die ihn in Gang brachte. Am Tag ihrer Volljährigkeit verließ sie das Elternhaus und erstattete Anzeige wegen Verstümmelung. Jahrelang hatte sie auf diesen Tag der Freiheit hingelebt.

Daß das Verfahren solche Dimensionen annehmen würde, hätte die heute 23jährige Studentin Mariatou Koita, die ihre eigenen Eltern, ihre Beschneiderin und die alten Traditionen aus Mali vor Gericht brachte, „nicht erwartet“. Im Zeugenstand rechtfertigt sie ihr Vorgehen in einem blumigen Französisch: „Nicht alle Traditionen aus Afrika sind gut. Wenn wir die guten bewahren und die schlechten abschaffen, dann verlieren wir trotzdem nicht unsere malische Identität.“

Die NebenklägerInnen – Menschenrechtsorganisationen und Frauengruppen – haben dankbar nach dieser Gelegenheit gegriffen, die sich ihnen mit Mariatou Koitas Anzeige bot. Seit Jahren versuchen sie, die Exzision zumindest in Frankreich in den Griff zu bekommen. Dort wo ÄrztInnen, JuristInnen und SozialarbeiterInnen Hand in Hand arbeiten, gelingt das auch. Eine Kinderärztin aus einer staatlichen organisierten Betreuung im Pariser Vorort Pantin berichtet dem Gericht über ihre Arbeit. Nach der Erstuntersuchung afrikanischer Babys sagt sie den Müttern: „Ihre Tochter ist intakt. Sie dürfen sie nicht beschneiden. Das macht das Kind kaputt. Und es ist in Frankreich verboten.“ Fünfzehn Jahre nach dem Beginn dieser systematischen Arbeit werden in Pantin keine Mädchen mehr beschnitten, sagt die Ärztin dem Gericht.

In dem holzgetäfelten Gerichtssaal zeigten die GegnerInnen der Beschneidung in der vergangenen Woche auch zwei Filme aus Afrika, die dort zu Aufklärungskampagnen gegen Beschneidungen eingesetzt werden. Als die blutigen Szenen über die Videobildschirme flimmerten und die Schreie der Opfer – ein Baby und ein kleines Mädchen – durch den Gerichtssaal gellten, schauten die meisten Angeklagten weg. Warum? „Das ist eine Schande für uns“, erklärte später eine Frau, „da geht es um Sexualität. Darüber spricht man nicht.“

Am Freitag verlangte der Staatsanwalt dennoch milde Strafen: Sieben Jahre für die Beschneiderin Hawa Gréou und fünf Jahre für die 23 Mütter. Das Urteil über die drei mitangeklagten Männer, von denen einer zu Prozeßbeginn erklärt hat: „was in meiner Familie geschieht, bestimme ich“, überließ der Staatsanwalt den Geschworenen und RichterInnen. Ihr Urteil ist für morgen angekündigt.