Der doppelte Adolf

Der japanische Comic-Autor Osamu Tezuka ist außerhalb seiner Heimat weitgehend unbekannt geblieben. Die englische Übersetzung seiner Werke könnte das ändern  ■ Von Jens Balzer

Der erste Superheld, den die japanischen Comics hervorgebracht haben, ist ein kleiner Roboter. „Tetsuwan Atom“ wird von einem traurigen Wissenschaftler zusammengeschraubt, dessen Sohn bei einem Unfall gestorben ist. Darum sieht er äußerlich auch wie ein kleiner Junge aus. Doch statt eines Herzens trägt „Atom“ ein kleines Kernkraftwerk in der Brust, das Gehirn ersetzt ein Computer. Und anders als andere Kinder, ist er perfekt auf die Abwehr nationaler Gefahren trainiert. Mit zwei Raketen, die in seine Füße gebaut sind, fliegt er zu Einsatzorten und Brennpunkten; mit einem Maschinengewehr in seiner Hüfte kann er schießen, mit seinen Infrarotaugen in der Dunkelheit sehen.

Der japanische Zeichner Osamu Tezuka hat „Tetsuwan Atom“ Anfang der fünfziger Jahre erfunden. Die Potenzphantasien aus den amerikanischen Superhelden-Comics, die damals erstmals in Japan zu lesen sind, verbindet er mit dem Science-fiction-Lob des technischen Fortschritts – aber auch mit Motiven der romantischen Identitätskrise. Denn „Atömchen“ darf zwar mit den Nachbarskindern spielen und geht gemeinsam mit ihnen zur Schule. Doch erspart ihm dies die häufigen Selbstzweifel nicht: Weil er nicht weiß, ob er ein „Mensch“ ist oder eine „Maschine“, kann er niemals so sein wie seine Freunde.

Der große Erfolg, den Tezukas Cyborg-Geschichte bei ihrem Erscheinen hatte, trug zur Etablierung der Comics in Japan wesentlich bei: als Massenmedium und als eigenständige Ausdrucksform. Bis heute ist die Ästhetik der Mangas von dem dynamischen Tempo geprägt geblieben, in dem Tezuka seine frühen Bildergeschichten montierte. Er selbst hat diesen „filmischen“ Stil aus seiner Vorliebe für amerikanische Cartoonserien erklärt. Als Regisseur von Zeichentrickfilmen ist er seit den sechziger Jahren auch international erfolgreich gewesen. Seine eigene Adaption von „Tetsuwan Atom“ etwa lief als „Astro Boy“ auch im amerikanischen Fernsehen; die Serie „Jungle Taitei“ hat es als „Kimba, der weiße Löwe“ in den Siebzigern bis ins deutsche Vorabendprogramm geschafft.

Tezukas Wirken als Comic- Künstler hingegen ist außerhalb Japans fast unbekannt. Dabei hat er zeit seines 40jährigen Schaffens rund 150.000 Seiten gezeichnet, in fast allen Genres der populären Kultur: Sein Werk umfaßt Science- fiction- und Samurai-Comics, Kinder- und Tiergeschichten, schließlich Melodramen für Mädchen. Doch erst jetzt, zehn Jahre nach Tezukas Tod im Jahr 1989, liegen zwei seiner Serien in einer amerikanischen Übersetzung vor: „Black Jack“, eine Mischung aus Ärzte- Melodram und Science-fiction, und „Adolf“, ein voluminöses Historienepos aus Tezukas Spätwerk.

„Black Jack“ ist in den siebziger Jahren entstanden; sein heterogener Zeichenstil zeigt Tezukas Wandlung vom von Disney beeinflußten Cartoon-Zeichner für Kinder zum „erwachsenen“ Genreautor. Der Titelheld der Serie ist ein sinistrer Chirurg – ein Außenseiter in seiner Zunft, der ohne Lizenz operiert und mit phantastischen medizinischen Methoden arbeitet. Seit er seiner ersten Freundin wegen Gebärmutterkrebs das Geschlecht umgewandelt hat – sie lebt heute als androgyner Arzt auf einem Schiff –, ist er auch ein einsamer Mensch. Doch trotz des abweisenden Äußeren läßt er armen und traurigen Menschen viel Gutes angedeihen.

„Black Jack“ spart nicht an den Moralismen, die zu Medizinergeschichten dazugehören: Ausführlich erfährt der Leser, wie mühselig es ist, über Leben und Tod gebieten zu müssen. Doch alle ethischen Schwierigkeiten, die ein Krankenhausteam üblicherweise ausdiskutiert, bleiben ganz in Black Jacks undurchdringlicher Miene versenkt. Statt dessen konzentrieren sich die Stories auf seine pseudomedizinischen Wundertaten. Dabei geht es weniger um Leben und Tod, sondern meistens um die Heilung von Identitäten. So hilft der Wunderheiler einem bekannten Sushi-Koch, dem bei einem Unfall beide Arme abgetrennt worden sind; einen Jungen, der unschuldig hingerichtet werden soll, rettet er durch eine Gesichtsoperation. Einem Mädchen schließlich entfernt er einen Abszeß, in dem sich der Körper einer verspäteten Zwillingsschwester zu entwickeln versucht. Nach getaner Arbeit baut sich Black Jack aus dem ungeordneten Organhaufen eine Adoptivtochter zusammen, die ihn fortan durchs Leben begleiten soll. Zwar fehlt hier die technophile Ikonographie der „Tetsuwan Atom“- Geschichte. Doch kann man bereits wesentliche Motive aus dem späteren Cyberpunk-Genre erkennen.

In seinem letzten Lebensjahrzehnt zeichnete Tezuka an einem ambitionierten Comic-Roman: Als spätes Opus magnum sollte ihm „Adolf“, der nun ebenfalls in einer amerikanischen Übersetzung vorliegt, Anerkennung beim literarischen Publikum verschaffen. „Adolf“ erzählt von zwei Jungen, die beide Adolf heißen und Ende der dreißiger Jahre im Deutschen-Viertel in Osaka aufwachsen. Adolf Kamille stammt aus einer jüdischen Bäckersfamilie; Adolf Kaufmann ist der Sohn des örtlichen Nazibotschafters. Obwohl sie sich als Kinder ewige Freundschaft schwören, müssen ihre Lebenswege sie natürlich entzweien. Als Mitglied der japanischen Résistance wird der eine Adolf in den Untergrund gehen; den anderen erzieht man auf einer Eliteschule zum gläubigen Nationalsozialisten um. Die Entwicklungen der Jungen zu Männern sind von Ichzweifeln und beiderseitigem Leiden an der Entzweiung begleitet. Doch der Haß wird schließlich unüberwindbar, als erbitterte Feinde jagen sich Adolf und Adolf rund um die Welt. Zum Showdown treffen sie sich, vierzig Jahre später, in Palästina wieder: als israelischer Geheimdienstagent und als PLO-Freiheitskämpfer.

Tezukas Zeichnungen sind hier in einem „realistischen“ Stil gehalten, der die mangaüblichen Stilisierungen und Hyperboliken nur noch akzentweise zuläßt: So wollte er seine Wandlung zum seriösen Künstler graphisch demonstrieren. Denn trotz der kruden historischen Konstruktion, die der Geschichte zugrunde liegt, versteht sich „Adolf“ als „educational comic“, jedes Kapitel ist mit ausführlichen Erklärungen und Zeittafeln versehen. Die Recherche der westlichen Kulturhintergründe ist Tezuka jedoch nicht immer geglückt. Wer jüdische Kinder zeichnet, die zum Gebet vor einem Altar knien, weckt einige Zweifel an der Qualität seiner Recherchen.

Dennoch ist „Adolf“ lesenswert, denn der späte Tezuka hat sein ganzes Talent als Autor entfaltet. Wie er die Desorientierung zwischen den Ideologien als fortgesetzte Ichkrisen schildert, wahrt er die Tragik der dazugehörigen Weltkatastrophen – und hält sie doch in einem überschaubaren Rahmen. Die Verwicklung der Identitätsverwandlungen, die die Haupt- und diversen Nebenfiguren erleiden, wird zudem mit allerlei Überraschungseffekten inszeniert; diese tragen einen wesentlichen Teil zum Suspense der Handlungsentwicklung bei. Trotz aller weitergehenden Ambitionen bleiben so auch im „literarischen“ Werk das Tempo und die Leichtigkeit der Genreserien erhalten.

Tezukas Geschick bei der Konstruktion von Geschichten, seine phantasievolle Vermischung von „ernsthaften“ Themen und Bizarrerien suchen unter westlichen Comic-Zeichnern ihresgleichen. Darum lohnt die Lektüre seiner Comics, auch wenn man die mangatypischen Figurenphysiognomien nicht mag: von „Tetsuwan Atom“ bis „Adolf“ ist hier das Werk eines bedeutenden Comic- Erzählers zu entdecken.

Osamu Tezuka: „Adolf“. 5 Bde., zus. 1.289 S., Viz Communications, San Francisco 1995, 1996; je 16,95 $

Osamu Tezuka: „Black Jack“. Bd. 1, 183 S., Viz Communications, San Francisco 1998, 15,95 $