Die Systeme des Weltspiels

■ Der asiatische Fleck auf dem Oberschenkel und andere Merkmale auf dem Weg zum Glück. Zockermentalitäten im Kulturvergleich

Vietnamesen spielen leidenschaftlich gern Black Jack, die Kasinoausgabe des hinlänglich bekannten 17 und 4. Dabei gehen sie den Croupiers völlig auf die Nerven. Vietnamesen spielen nach dem „vietnamesischen System“. Wenn sie mit zwei Karten 13 oder 14 Punkte haben, nehmen sie keine dritte Karte auf, was für oberflächliche Franzosen eine Selbstverständlichkeit wäre. Vietnamesen wissen nämlich, daß Überschuß eindeutig Niederlage bedeutet, und lassen den Croupier schwitzen. Sie haben die Wahrscheinlichkeit für, aber die hiesige Spielermoral gegen sich. Auf diese Weise gewinnen Vietnamesen jedoch beim Black Jack. Nicht umsonst haben sie alle den sogenannten asiatischen Fleck auf dem Schenkel, der als Glücksbringer beim Kartenspielen gilt. Außer Vietnamesen haben auch Mongolen und Chinesen den blauen Fleck auf dem Schenkel, aber sie spielen nicht Black Jack.

Russen spielen selten Black Jack, aber oft und gerne Poker. Die zwei einzigen Pokertische des Spielkasinos im Berliner Europa-Center erinnerten mich an Parteisitzungen des Politbüros. Schnurrbärtige ältere Männer in grauen Anzügen betrachten vorwurfsvoll den Araber im karierten Hemd, der nicht konsequent pokert, denn er hat kein System! Russen gewinnen beim Pokern, weil sie ein System haben. Das „russische System“ eben. Unabhängig davon, welche Kombination man gerade hat, man macht ein Full-house-Gesicht, strahlt Sicherheit aus und wird zum Stein, bis die Partie vorbei ist.

Etwa so wie der russische Präsident, der nach diesem System seit Jahren sehr überzeugend den ewig Jungen spielt, immer von Journalisten umgeben, und niemand stolpert über Verlängerungskabel. Zuerst denken oberflächliche Franzosen, die Russen spinnen, aber dann geben sie nach. Sie geben nach! Während die Männer an den Pokertischen die Araber erleichtern, verlieren die russischen Frauen beim Roulette. Sie haben auch ein System: Sie setzen immer auf eine Farbe, und wenn sie verlieren, wird der Einsatz verdoppelt. Denn alle russischen Frauen wissen, was der Akademieprofessor Doktor Kapiza in seiner Fernsehsendung „Unglaublich aber wahr“ einmal sagte: „Gute 13mal kann Schwarz hintereinander kommen, aber niemals 14mal.“ Mit Rot sieht es nicht so rosig aus.

Rot kann 17mal hintereinander kommen. Die russischen Frauen sind ungeduldig – wenn sie auf der elektronischen Anzeigetafel sehen, daß Schwarz fünfmal hintereinander gekommen ist, steigen sie sofort auf Rot ein. Auf diese Weise gewinnen russische Frauen, verlieren aber dann trotzdem, weil sie alles Gewonnene wieder auf irgendeine blöde Zahl setzen – wie zum Beispiel 16. Warum sie es tun, keine Ahnung. Vielleicht, weil sie so einen Fleck auf dem Schenkel nicht haben.

Wenn thailändische Frauen Black Jack spielen, hören alle anderen auf. Denn gegen Thailänder hat man beim Black Jack keine Chance. Stundenlang beobachtete ich ihr Spiel und versuchte das thailändische System zu entschlüsseln. Beinahe verrenkte ich mir beim Zugucken den Hals. Alles war umsonst! Mit großer Bewunderung mußte ich feststellen, daß die Thailänderinnen schon nach wenigen Spielen die 72-Karten-Reihenfolge auswendig konnten. Dadurch erhöhte sich die Wahrscheinlichkeit des richtigen Handelns um 100 Prozent. Mit solchen Fähigkeiten könnten sie schon längst im Geld schwimmen, aber sie wollen ihr Geheimnis nicht preisgeben. So müssen die Thailänderinnen aus konspirativen Gründen alles immer wieder verlieren.

Die Spielbank Berlin sieht manchmal aus wie eine Sondersitzung der UNO. Ich glaube sogar, daß in der Spielbank weit mehr Nationen vertreten sind als bei einer gewöhnlichen UNO- Sitzung. An jedem Tisch wird verhandelt, welches System am besten funktioniert, die Lage ist gespannt, die Kugeln drehen ihre Runden, die Karten flimmern vor den Augen. Mir wird leicht schwindlig, und ich setze mich an die Bar. Eigentlich kommen hier nur Gewinner hin, die an einem Abend die ganze Spielbank leerräumen könnten. Um ihren Spaß und ihren Status zu behalten, müssen sie jedoch letztendlich alles Gewonnene wieder verlieren.

Die Frau am Tresen heißt Lisa. Sie kommt aus England, wie auch ihr Freund, der als Croupier am Pokertisch arbeitet. Die Angestellten der drei großen Berliner Kasinos dürfen in Berlin nicht spielen. Wenn sie von der Administration erwischt werden, sind sie ihren Job los. Lisa erzählte mir, wie schwer es ist, den ganzen Tag zuzusehen, wie andere spielen, und selbst nicht mitmachen zu dürfen. So muß sie immer wieder der Versuchung widerstehen. Das ist sehr anstrengend. Um sich zu entspannen, verbringen die beiden Engländer ihren Urlaub oft auf Malta, wo die Spielkultur sehr verbreitet ist und man schon für einen Vierteldollar dazugehört. Dort ziehen sie Nacht für Nacht durch die Kasinos, nie gehen sie an den Strand.

Als ich Lisa nach dem englischen System fragte, schüttelte sie ausweichend den Kopf. Einmal hatte ihr Freund Willi das sogenannte Zero-System beim Roulettespiel entdeckt. Für diese Entdeckung hatten beide einen teuren Preis bezahlt – sie verspielten ihre gesamte Urlaubskasse in einer Nacht. Seit diesem Vorfall sind sie fest davon überzeugt, daß es beim Glücksspiel nur um den Zufall geht.

Die Türken denken anders und spielen leidenschaftlich gern an Automaten. Vor allem an denen, die einen Hebel haben, den man ganz toll runterziehen kann. Weil sie temperamentvoll sind und sportbegeistert. Das türkische System geht folgendermaßen: Zuerst suchen sie sich einen Automaten, der schon lange nichts rausgerückt hat. Dann warten sie ab, bis der leichtsinnige Franzose mit leeren Taschen nach Hause geht, und füttern den Automaten so lange mit 5-Mark-Münzen, bis er endlich aufgibt und mit Musik und Geflacker „Check Point“ aufleuchtet. Bei diesem System darf man niemals sparen und auch nie weniger als fünf Mark einwerfen, sonst klappt es nicht mit dem „Check Point“.

Die Deutschen mischen sich systemlos überall ein. Sie pokern, hopsen an die Black-Jack-Tische, ziehen dem Automaten den Hebel runter und verfolgen die Kugel in der Rouletteschüssel. Wenn sie gewinnen, freuen sie sich nicht, wenn sie verlieren, bleiben sie gleichgültig. Im Grunde genommen sind sie nicht aufs Spiel aus. Die Deutschen gehen ins Kasino, weil sie weltoffen und neugierig sind. Dort lernen sie die Systeme anderer Nationen kennen, die sie im Grunde aber auch nicht sonderlich interessieren.

Einmal, es war lange nach Mitternacht, ging im Kasino das Licht aus. Alle Systeme wurden durcheinandergebracht, die Spieler aller Nationen fluchten, jeder in seiner Sprache. Es hörte sich wie der letzte Tag von Babylon an. In diesem Moment ist mir klargeworden, daß all diese Menschen, wie unterschiedlich sie auch waren, nur das eine wollten: Strom. Wladimir Kaminer