Ein Abriß, so lang wie der Einsatz

Im bayerischen Kahl wird ein Siedewasserreaktor abgerissen, der als Versuchsatomkraftwerk gut 20 Jahre am Netz war. Die Ingenieure sammeln Erfahrungen mit radioaktivem Schrott, die bald von Nutzen sein könnten  ■ Aus Kahl Michael Franken

„Keine Kontamination“, sagt die metallisch klingende Frauenstimme und, nach einem Summton: „Verlassen Sie die Meßzone.“ Horst Kalwa kommt aus der silbernen Metallbox und grinst: „Reine Routine.“ Nach jeder Schicht müssen die Kraftwerker in die knapp zwei Meter hohe Röhre treten, die Füße an Sensoren heranrücken, die Arme seitlich hoch legen und die Strahlung in ihrem Körper messen lassen.

Seit 14 Jahren produziert das Versuchsatomkraftwerk Kahl (VAK) keinen Strom mehr, seit zehn Jahren arbeiten Kalwa und seine Kollegen an der Demontage des Meilers. Es ist ein Atomkraftwerksabriß im Kleinformat. Die volle Leistung des Kahler Reaktors betrug 16 Megawatt. Zum Vergleich: Das Atomkraftwerk Würgassen an der Weser, das im Mai 1995 stillgelegt wurde und nach Angaben des Betreibers PreussenElektra bis 2010 demontiert sein soll, hatte eine Leistung von 670 Megawatt.

Horst Kalwa kennt den Kahler Siedewasserreaktor wie kein zweiter. Der 46jährige Maschinenbauingenieur gehört seit 1977 zur Stammbelegschaft. Als jüngster Schichtleiter überwachte er anfangs die komplizierten Steuerungsprozesse und war für die technische Überprüfung der Anlage zuständig. Nachdem das Kraftwerk 1985 abgeschaltet worden war, wurde unter seiner Regie als Cheftechniker die Demontage eingeleitet, und, „wenn alles nach Plan läuft, wird hier im Jahr 2005 nur noch eine Wiese zu sehen sein“.

Den Übergang vom normalen Betrieb in die Stillegungsphase hat Kalwa als eine „merkwürdige“ Zeit in Erinnerung: „Nach jahrelanger Aufbauarbeit mußten wir uns darauf einstellen, genau so lange unsere Stromfabrik wieder abzureißen.“ Inzwischen sieht er die Sache nüchtern, aus der Sicht eines Ingenieurs eben, der die Aufgabe hat, hochradioaktive Teile auseinanderzunehmen und für die Endlagerung vorzubereiten. Darin dürften sich die Kahler Kraftwerker als Pioniere fühlen, meint Kalwa und läßt seinen Stolz durchblicken auf den aus seiner Sicht bisher einwandfreien Rückbau des ersten deutschen Atommeilers.

Er öffnet die Tür, die aus dem alten, noch teilweise intakten Kontrollraum hinausführt. Den Weg zum ehemaligen Maschinenhaus findet Kalwa längst mit geschlossenen Augen. Vorbei an dicken Stahltüren klettert er eine graulackierte Eisenleiter hoch und zeigt von oben auf einen knapp neun Meter hohen Metallzylinder, der fast bis an die Decke des Maschinenhauses reicht: „Das ist er.“ Es handelt sich um das im Maßstab eins zu eins nachgebaute Modell des Reaktordruckbehälters. Eine halbe Million Mark hat der Nachbau gekostet, an dem Kalwa und seine Leute unter „kalten“ Bedingungen ihren schwierigsten Job proben: die Zerlegung des Originalreaktordruckbehälters, in dem sich die Brennelemente befunden haben und der hochradioaktiv verseucht ist. Das „heiße“ Original steht drüben im Reaktorgebäude.

Jeder Handgriff wird an Nachbauten geübt

In den Versuchsbehälter läuft Wasser. Im Inneren steht es etwa einen Meter hoch, auf dem Boden sind Einbauten zu erkennen, die sich so auch im Originalbehälter befinden. Im Ernstfall müssen diese strahlenden Teile unter Wasser zerkleinert werden, eine ausgesprochen mühselige Prozedur. Horst Kalwa steuert auf einen Monitor zu. Auf dem Bildschirm erkennt man eine Unterwasserschere, eine patentierte Spezialanfertigung. Vorsichtig, Millimeter für Millimeter, zerschneidet die Schere Eisenteile. Kalwas Kollege Edgar Englert bedient die Greifer und Zangen. Am Monitor kann er jeden Schnitt verfolgen. „Ohne Experten, die Spezialmaschinen wie diese Schere bedienen können, läßt sich ein Reaktor nicht demontieren“, erklärt Kalwa. „Unsere Leute müssen jeden Handgriff im Schlaf kennen, um später die verstrahlten Teile schnell zerlegen zu können.“ Deshalb werde hier im alten Maschinenhaus geübt „bis zum Abwinken“.

Bei der ganzen Tüftelei, dem Schneiden, Sägen und Fräsen am nachgebauten Reaktorbehälter, kann dann auch schon mal eine Neuheit herauskommen: wie zum Beispiel das „WASS“-Verfahren, WASS steht für „Wasserabrasivsuspensionsstrahlen“. Horst Kalwa hält den Schneidekopf des Werkzeugs fest in der Hand und zeigt auf die winzige Düse, durch die im Einsatz Wasser mit so enormer Kraft gedrückt wird, daß eine 30 Zentimeter dicke Wand aus Beton wie geschnittenes Brot auseinanderfällt. Das Funktionsprinzip ist einfach und wurde in ähnlicher Form schon bei der Demontage von Offshore-Bohrinseln benutzt. Mit Granatsand versetztes Wasser zerschneidet mit einem Druck von 2.000 bar unter Wasser selbst Edelstahl bis zu einer Dicke von 300 Millimetern. Im VAK Kahl wurde das Wasserstrahlschneiden erstmals bei der Zerlegung hochradioaktiver Bauteile des Reaktordruckgefäßes eingesetzt, erfolgreich: „Die Sache haben wir uns patentieren lassen“, schmunzelt Kalwa.

In den vergangenen zwei Jahren hat sich seine Crew so – mit Übungen am Nachbau und der Anwendung am Original – an das Herzstück der Anlage herangewagt. Die meisten Einbauten im Originalreaktorgefäß sind inzwischen zerlegt. Nun steht der schwierigste Teil bevor. Kalwa weist nach unten in den Nachbau des Reaktordruckbehälters und zeigt auf den Mantel, der im Original den Reaktorkern umgibt. Der untere Kernmantel und das sogenannte thermische Schild, ein zwei Meter hoher Stahlzylinder mit einer Wandstärke von 30 Milimetern, müssen in jeweils 20 Zentimeter lange Teile zerlegt werden. „Die werden dann endlagergerecht in 200-Liter-Fässer verpackt und gehen in das oberpfälzische Zwischenlager Mitterteich“, sagt Kalwa.

Er verläßt das Maschinenhaus, in dem früher die Turbine und der Stromgenerator untergebracht waren, und macht sich auf den Weg in den „heißen“ Teil der Anlage. An der Wand hängen zigarettenschachtelgroße Meßgeräte. Kalwa hat sein eigenes Dosimeter. Jeder Mitarbeiter und alle Besucher tragen so ein Ding, wenn sie in das Reaktorgebäude gehen. Zur Kleiderordnung gehören außerdem blaue Schutzanzüge. Horst Kalwa öffnet eine schwere Eisentür, dann steht er direkt unter der Reaktorkuppel. Vor dem Betreten des „heißen“ Bereichs gibt es noch Handschuhe und Überschuhe. Im Reaktorgebäude herrscht normaler Schichtbetrieb. Links werden mit Spezialstaubsaugern Rohrleitungen abgetastet, rechts tauchen ein Dutzend 200-Liter-Atommüllfässer auf. Und mittendrin arbeiten drei Kraftwerker, die eine verstrahlte Containerplatte beiseite räumen. Pro Schicht halten sich 20 VAK-Mitarbeiter im Reaktorgebäude auf, vier von ihnen sind Strahlenschutzbeauftragte.

Frank Felder reibt sich Schweißperlen von der Stirn. Seit einer halben Stunde versucht er, zwei kontaminierte Deckel aus Gußeisen zu reinigen. Eine kurze Verschnaufpause, dann stecken seine Hände wieder in den schweren Gummihandschuhen, die in einen gelb lackierten Kasten hineinreichen, die Dekontaminationsanlage, eine Art chemische Reinigung für Atomabfall. Felder schaut durch eine verschmierte Fensterscheibe, von innen sorgt ein Wischer für bessere Sicht. Mit 150 bar Hochdruck reinigt Felder den Nuklearschrott im Inneren des Kastens. Die dekontaminierten, also gesäuberten Metallteile können nach ihrer Freigabe durch die Kontrollbehörden als Schrott wiederverwendet werden. Die anfallende radioaktive Flüssigkeit muß weiterverarbeitet werden. In der im VAK noch aus der Betriebszeit vorhandenen Wasseraufbereitungsanlage werden die radioaktiven Schlämme abgesondert und in Fässern für die Endlagerung verpackt. Horst Kalwa zeigt auf den geöffneten Deckel des Reaktorbehälters. Durch den Spalt sieht man den unteren Kernmantel. „Den müssen wir als nächstes rausholen“, seufzt er.

Bei „rot“ müssen alle Arbeiter sofort raus

Auf Besucher wirkt dieser Arbeitsplatz, an den Kalwa sich längst gewöhnt hat, alles andere als beruhigend. Überall Warnschilder „Vorsicht radioaktiv“, Kontrolllampen, piepsende Meßinstrumente, die die Arbeitsplätze im gefährlichen Bereich beim ehemaligen Abklingbecken für die Brennelemente kontrollieren. Durch einen Plastikschlauch wird Luft in eine Metallbox gesaugt, gefiltert und ausgewertet. Ein Meßgerät zeigt an, bis zu welchem Grad die Atemluft unter der Betonkuppel des Kraftwerks radioaktiv belastet ist. Das Gerät ist mit einer Ampel verbunden, normalerweise leuchtet sie „grün“. Bei „rot“ müssen alle Arbeiter sofort raus. „Rot- Phasen sind bisher äußerst selten vorgekommen“, sagt einer der Strahlenexperten. Die Strahlenbelastung der an der Demontage beteiligten Personen liege bisher bei zehn Prozent des zulässigen Grenzwerts.

Der technische Leiter des VAK Kahl, Werner Reiter, glaubt nach fast elf Jahren Erfahrung mit dem Rückbau des Meilers, daß technisch der Ausstieg aus der Atomenergie zügig machbar wäre: „Vom Tag X aus könnte man mit unserem Know-how in fünf bis sechs Jahren jedes Kraftwerk stilllegen.“ Vom rot-grünen Ausstiegsprojekt hält Kernkraftwerker Reiter trotzdem nichts. Ihn haben seine Erfahrungen geprägt. Er schwört auf die Sicherheitsstandards deutscher Atommeiler, ausgerechnet sie als erste abzuschalten, hält Reiter für absurd: „Niemand kann die Energieversorger daran hindern, daß sie Atomstrom aus Frankreich oder sogar aus Osteuropas maroden Kernkraftwerken einkaufen.“

Noch sechs Jahre wird die VAK-Mannschaft in Kahl mit der Demontage ihres Atommeilers beschäftigt sein. Fast zwanzig Jahre hat der Abriß dann gedauert – genauso lange wie die Betriebszeit des ersten Atomkraftwerks auf deutschem Boden.