Überall Absurdität und Irrsinn

■ Lügen und nicht lügen: Miklós Jancsós „Gottes Laterne in Budapest“

Es gibt keine Parabel mehr. Aus der Vergangenheit läßt sich nicht auf die Gegenwart schließen. Ja, nicht einmal aus der Gegenwart auf sich selbst. Als ich vor tausend Jahren ,Die Hoffnung‘ (1965) gedreht habe, mußte ich feierlich erklären, darin ginge es nicht um den (sogenannten) Sozialismus. Dabei wußten die Zuschauer in Ungarn wie im Ausland genau, was los war.

Heute sind solche doppelbödigen Darstellungen überholt“, sagt Miklós Jancsó, einer der großen alten Männer des ungarischen Kinos. Es ist schwer zu beschreiben, worum es in seinem neuen Film „Gottes Laterne in Budapest“ geht, was durchaus im Sinne des Regisseurs ist, der nicht an „Filmstories“ glaubt: „Die lügen. Absichtlich. Damit du vergißt und dich zumindest im Kino wohl fühlst. (...) Die meisten Filmstories gewöhnen einem das Denken ab. Und das halte ich für schlimm. Aber vielleicht irre ich mich und es ist gar nicht so schlimm.“

Ihrer Bipolarität entkleidet, tritt die Welt dem Filmer so entgegen, wie sie den Surrealisten vor ihrem kommunistischen Engagement begegnet sein mag: als Absurdität und Irrsinn allerorten. Clinton mit seinem Zippergate, der alkoholkranke Jelzin, 80 Prozent der Menschheit, die hungert: „In einer solchen Welt kann ich nicht so ernst sein. Ich muß mich manchmal jeden Tag totlachen“, und „Filme kann man nur noch machen, wenn man auf die Welt scheißt“. Die Form, in der der Filmer „auf die Welt scheißt“ – eine durchaus klassisch-surreale Geste, in der der Film nicht mehr die entfaltete oder die im Kunstwerk zu sich gekommene Welt ist, sondern das Ergebnis ihrer Verdauung, hat trotz ihrer Obszönität, die in den wütendschönen Slangliedern des Films zum Ausdruck kommt, etwas altmodisch, humanistisch Elegantes (nicht Punk, sondern Villon).

Der lange Kapa (Zoltán Mucsi) und sein Sancho-Pansa-mäßiger Kumpel Pepe (Péter Scherer) torkeln als Totengräber oder Ganoven, als Neureiche oder bankrotte Unternehmer, als Boß oder Handlanger einer Terrororganisation durch Budapest. Sie kennen sich aus der Schule oder haben sich vergessen, eine Verwechslung liegt wohl vor. Der eine möchte von der Donaubrücke springen; der andere weiß einen besseren Platz zur Selbsttötung und springt, weil der andere es mit der Angst zu tun bekommt, selbst in den schöner gelegenen Brunnen. „Holzmösen“ kommen als Vorwurf daher, die hübsche Nichte löscht ihre Familie aus und schämt sich ein bißchen; erschossen werden viele, sterben mag keiner.

Die überaus klaren, sanft-statischen Bilder wirken so altmodisch wie erholsam-gemächlich. Grotesk, satirisch, humorig reihen sich die absurden Episoden wie Theaterakte aneinander. Am Ende haben alle Helden Flügel, werden naßgespritzt und jemand singt schöne obszöne Lieder. Manchmal erinnert der Film an ein Lehrstück von Buñuel oder Brecht, ohne daß man wüßte, was es zu lernen gebe. Irgendwann im lustigen Filmgespräch fragte der 77jährige Regisseur angesichts dessen, daß er sich einäschern lassen möchte: „Und wenn ich nun auferstehen muß und mir ein Bein fehlt, was mache ich dann?“ Detlef Kuhlbrodt

Forum: Heute, 19.30 Uhr, Akademie der Künste