Deutsch sein oder deutsch werden?

■ Auf dem Weg zum Bürgerstaat (5): Der Doppelpaß ist zum Gegenstand rein deutscher populistischer Innenpolitik gemacht worden

Das Pochen auf das Recht auf Mehrstaatlichkeit drückt nicht nur die existentielle Ambivalenz aus, in der sich Einwanderer naturgemäß befinden – es ist auch die Antwort auf das nicht eingehaltene Assimilationsversprechen der deutschen Gesellschaft. Nur wer dem anderen nicht gänzlich vertraut, läßt sich nicht voll auf ihn ein.

Dieses Mißtrauen wurde zuletzt durch die unsägliche Doppelpaß- diskussion und die erschreckend erfolgreiche CDU/CSU-Unterschriftenkampagne verstärkt. Somit bleibt der zweite Paß für viele nicht nur eine theoretische Fluchtmöglichkeit – er ist auch der Rettungsring für das schwer geschädigte Selbstbewußtsein vieler Einwanderer. Er steht für die Tatsache, daß die hier geborenen und aufgewachsenen Generationen weiterhin „Türken“ bleiben müssen und nicht Deutsche werden können – weil sie nicht als solche geboren wurden.

Das Selbstverständnis der Deutschen als ein „Sein“ und nicht „Werden“ wird sich durch keine Gesetze verändern, dazu bedarf es unabsehbarer Zeit. Gleichwohl ist die Abschaffung des Blutrechts ein revolutionärer Schritt, eine Vorbedingung. Die CDU/CSU-Kampagne mobilisiert das Mißtrauen, wenn nicht den Haß gegen eine Minderheit und ist insofern gefährlich und kriminell. Was ohne sie mit Unbehagen, zwangsläufig hingenommen worden wäre, wurde über die Köpfe der Betroffenen hinweg zum Gegenstand rein deutscher populistischer Innenpolitik gemacht. Das spricht der Masse eine bedrohliche Macht zu.

Die deutsche Gesellschaft hat den Fremden spätestens seit den 80er Jahren ein Assimilationsangebot gemacht, das – politically correct – „Integration“ genannt wurde. Viele nahmen dieses Versprechen wörtlich, vor allem für die Jüngeren wurde es zu einer Existenzfrage. Schließlich zählte seit dem Einbruch der Moderne (und in Deutschland seit 1945) das Individuum, nicht das Kollektiv. Wenn der einzelne die neuen, besseren Werte und Normen annimmt, so versprachen die Eliten, werde er auch dazugehören.

Die jungen Einwanderer versuchten sich in der deutschen Gesellschaft zu assimilieren und nahmen einen Bruch mit ihren Familien in Kauf. Die Eigenschaften, die als stigmatisierend empfunden wurden, sollten abgelegt werden. Daß somit die Überlegenheit der „anderen“ und die „Minderwertigkeit“ als Geburtsmakel akzeptiert wurden, wurde übersehen.

Und die Mehrheit der Türken beobachtete die Aufsteiger aus ihren Reihen mit Neugierde und instinktiver Skepsis. Ihre volle Akzeptanz in der Gesellschaft hätte Schule machen können, denn bekanntlich überzeugt Erfolg wie nichts anderes. Aber dieser Erfolg blieb aus. Obwohl sie das Versprechen der Moderne ernst genommen hatten und sich als Individuen veränderten und assimilierten, reihte der Blick von außen sie stets in das Kollektiv ein, das sie durch Selbsterziehung hinter sich zu lassen glaubten. Ungleichzeitigkeiten, kulturelle Unterschiede, individuelle Bestrebungen zur Veränderung wurden negiert. Eine Assimilation durch Lernen und Selbstvervollkommnung des einzelnen war in Deutschland für die zur „Andersartigkeit“ Verdammten nicht möglich.

So passiert mit den türkischen Deutschen das, was mit den ebenso assimilationswilligen Juden noch vor dem Nationalsozialismus geschah: Man kaufte ihnen ihre „Maske“ nicht ab und fand ihren angepaßten Lebensstil (“Wandschrank aus Eiche und blankgeputzten Mercedes vor der Tür“) allenfalls belustigend und befremdlich. Den anderen, die ihre gewohnte Lebensweise beibehielten, wurde „fehlender Integrationswille“ bescheinigt. So begannen schließlich auch die Pioniere der Assimilation die Gesellschaft von ihresgleichen zu suchen: Türkische Diskotheken und Cafés schießen seit Anfang der 90er Jahre überall wie Pilze aus dem Boden. Auch diejenigen, die sich niemals abkapseln wollten, finden sich, durch eine negative Auslese, eben doch in dieser Gesellschaft wieder.

Gleichzeitig fanden seit den 80ern die postmodernen Theorien von multikultureller Gesellschaft auch hier Einzug. „Identität“ und „Community“ waren nur zwei der Zauberformeln. Was für die Moderne das Kollektiv der türkischen Gastarbeiter war, wurde nun für die Postmoderne zum Kollektiv der türkischen Community in Deutschland. Es gab für die Assimilierungswilligen kein Entkommen aus dem Kollektiv. Ihre von Geburt an vorgezeichnete Ambivalenz, ihre stetige Selbstveränderung, ihr Spiel mit den verschiedenen Identitäten wurden sogar als besonders problematisch angesehen. Die Beschwörung einer türkischen Community (wie heterogen sie doch sei) ging einher mit der Feststellung, daß diese sich „immer mehr von der deutschen Gesellschaft zurückzog“. Eine „selffulfilling prophecy“ zwang die Einwanderer, im Kollektiv Türken zu bleiben, auch wenn sie das schon längst nicht mehr waren.

Mölln und Solingen haben schließlich den Prozeß abgerundet. Gleichzeitig hatte sich die Welt in das vielzitierte globale Dorf verwandelt. Die Türkei war nur drei Flugstunden entfernt und für wenige hundert Mark erreichbar. Türkische Medien sind in jedem Haushalt zu empfangen. Huntington beschwor den Kampf der Zivilisationen, der Islam wurde zum neuen Feindbild aufgebauscht. Der Angriff schien perfekt. Die Minderheit zog sich in Zeiten der Gefahr lieber zurück und wurde durch dieses Verhalten wiederum zu einem Problem und „Multikulti“ zum gescheiterten Projekt erklärt.

Heute ist die Atmosphäre in Deutschland vergifteter denn je. Man spricht davon, daß es „schlimmer als nach Solingen“ sei, Freunde denken wieder an das Auswandern, allgemeiner Pessimismus macht sich breit. Trotzdem geht der freiwillige Assimilationsprozeß der Jüngeren weiter. Vielleicht können sie sich mit den Worten Zygmunt Baumans über den verzweifelten Assimilanten Franz Kafka etwas Mut machen: „Wenn einem nichts geschenkt wird, schuldet man keinem etwas. Kein Vorurteil legt den Augen Scheuklappen an, keine Loyalität bindet die Lippen. Das bedeutet endloses Leiden, aber auch grenzenlose Freiheit. Was bleibt, ist, diese Freiheit zu leben: Eine quälende Aufgabe, eine atemberaubende Chance.“ Diese Chance ist nicht an den Doppelpaß gebunden, auch nicht an die unbedingte Akzeptanz als Deutscher. Ein gutes Diplom ist mehr wert als der Adler auf dem Paß. Den neuen Generationen diese Chance zu geben ist für Rot- Grün eine größere Aufgabe als die Einführung von Mehrstaatlichkeit. Dilek Zaptçioglu

wie nichts anderes. Aber dieser Erfolg blieb aus. Obwohl sie das Versprechen der Moderne x'?–

ihresgleichen zu suchen: Türkische Diskotheken und Café