„Eine Bewegung, die keiner mehr kontrollieren kann“

■ Die Psychoanalytikerin Gertrud Hardtmann, emeritierte Professorin des Sozialpädagogischen Instituts der TU Berlin, über das Phänomen der Selbstverbrennung militanter Kurdinnen und Kurden

taz: Sie haben die erschütternden Bilder der Selbstverbrennungen von Kurden in verschiedenen europäischen Städten gesehen. Hat die Sozialpsychologie Erklärungen für solche Vorgänge?

Gertrud Hardtmann: Wir erleben so etwas nicht zum erstenmal, und man kann es als äußerstes Mittel einer öffentlichen Provokation beschreiben. Die Selbstverbrennung wird benutzt, wenn alle anderen Versuche der Weckung von öffentlicher Aufmerksamkeit versagt haben. Es ist eine Reaktion auf eine vielfach wiederholte Kränkung.

Kann dem Versuch einer Selbstverbrennung denn die rationale Wahl von Handlungsmöglichkeiten vorausgehen?

Es ist in jedem Fall teilrational. Die Vorgänge ereignen sich im Rahmen einer politischen Bewegung, die rationale Ziele formuliert. Aus der Gruppen- und Massenpsychologie weiß man, daß die Rationalität in derart dynamischen Prozessen eingeschränkt ist. Die Rationalität beschränkt sich auf ein paar Grundannahmen, die falsch sein können, aber die Legitimation zum Handeln geben. Was die Gruppen aber eint, ist das Gefühl der Ohnmacht.

Welche Rolle spielt dabei der einzelne?

In so einer Gruppe gerät etwas in Bewegung, das keiner mehr kontrollieren kann. Es haben einzelne jedoch immer auch das Bestreben, durch ein besonderes Opfer aus der Gruppe herauszuragen. Das ist wohl auch eine Frage der individuellen Persönlichkeit, denn am Verlauf der verabredeten Aktion ändert es nichts.

Die Selbstverbrennungen sind mit dem Begriff einer kollektiven Psychose gekennzeichnet worden. Lassen sich die Autoaggressionen unter solch einem Begriff zusammenfassen, und was hat man darunter zu verstehen?

Psychose heißt in der Regel Realitätsverlust, und ich denke, daß man von einem partiellen Realitätsverlust sprechen kann, aber nicht in Verbindung mit psychotischen Störungen. Der vorliegende Realitätsverlust begnügt sich mit Meinungen und Annahmen, die nicht bewiesen sind, etwa der, daß Israels Geheimdienst in die Entführung Öcalans verwickelt war. Eine Masse, wenn sie sich einmal versammelt hat, überprüft keine Annahmen mehr, sie will handeln. Wenn Massenversammlungen von einem gemeinsamen Affekt getragen werden, also Wut, Empörung oder Ohnmacht, ist von einem Realitätsverlust auszugehen.

Glauben Sie, daß die kurdische Psyche besonders vorgeprägt ist? Ist der vorläufige Endpunkt einer langen Entwicklung kollektiver Kränkungen erreicht?

Was derzeit geschieht, kann man nicht ohne die Vorgeschichte verstehen. Die kurdischen Bestrebungen nach einer nationalen Anerkennung sind nicht nur von den Türken, sondern auch von der europäischen Gemeinschaft immer wieder enttäuscht worden.

Hat man Möglichkeiten, die Situation zu entschärfen?

Die Polizei wird sich damit sehr schwer tun. Sie müßte etwas tun, was ihrem Denken widerspricht: Man müßte mit der PKK ins Gespräch kommen, auch wenn man meint, sie nicht anerkennen zu können. Ich sage das nicht aus politischer Überzeugung, sondern gehe von der sozialpsychologischen Annahme aus, daß man in schwierigen Situationen Kontaktangebote machen muß. Interview: Harry Nutt