Ostdeutsche Truman Show

■ Für immer und ewig die Golzower Lebenswege: Brigitte und Marcel

Je länger man darüber nachdenkt, desto fragwürdiger erscheint einem das Unternehmen. Gleichzeitig ist man fasziniert von dem Ergebnis. Seit 1961 verfolgen die ostdeutschen Dokfilmer Barbara und Winfried Junge die „Lebenswege der Kinder von Golzow“. Kurz nach dem Mauerbau kamen die Junges erstmals mit ihrer Kamera zur Einschulung ins Oderbruch. Seitdem hören sie nicht auf, Leben zu dokumentieren. Faszinierende Bilder über die Bewohner eines Landes, das es nicht mehr gibt.

Eine Zumutung andererseits, eine Einmischung in fremde Biographien, die in schonungslosem Realismus wie Sanduhren vor uns ablaufen. Desillusionierend, weil wir als Zuschauer mit ansehen müssen, wie Leben vergehen. Dazwischen werden wir in einer Hühnerfabrik gearbeitet haben. Und wie Brigitte aus Golzow irgendwann uns hocharbeiten bis in die wissenschaftliche Hühnerpathologie. Und wenn wir dann gerade ein Küken sezieren, wird Herr Junge mit seinem Mikrofon kommen und uns fragen: „Und, macht Spaß?“

Da sind die Junges gnadenlos, auf ihre inquisitorischen Fragen ist unbedingt wahrheitsgemäß zu antworten. Daß die Golzower allerdings nicht frei waren bei der Beantwortung der Fragen, ist eine der Tatsachen, die die beiden Filmer nicht mit reflektieren. Das Wörtchen DDR fällt fast nie. Und natürlich handelten die Junges nicht nur auf eigene Faust. Sie versuchen ein Experiment zu dokumentieren, und so inszenieren sie seit fast vierzig Jahren eigentlich selbst einen Versuch am lebenden Objekt. Mit dem Ende der DDR verschwanden die Junges nicht aus den Leben ihrer „Kinder“.

Brigitte stirbt mit 29, und dann verfilmen die Junges das Aufwachsen ihres Sohnes Marcel. Und der erzählt vom Versuch seiner Mutter, die Biographiereporter abzuschütteln. Irgendwann standen sie aber doch wieder im Garten und erhielten Auskunft. Auffallend auch die lust- und humorfreie Herangehensweise der Junges. Nie werden die Menschen beim Essen, Feiern oder Liebemachen gezeigt. Hat jemand aus Golzow je gelächelt?

Immer wieder ist Junge Übervater und Glückswächter. Streng erkundigt er sich, ob es denn nun was wird mit dem anständigen Familienleben. Brigitte muß sich vorwerfen lassen, daß sie ihren Sohn allein durchbringt. Als sie dann „endlich“ einen neuen Freund hat, sät Junge Zweifel: Ist der neue Mann auch der Richtige? Irgendwann muß auch Marcel auf die Couch und sich anschauen, wie er und seine Mutter ihre letzten Tage zusammen verbringen. Marcel ist längst den Tränen nah, aber die Kamera bleibt in seinem Gesicht. Der sozialistische Mensch im Experiment Kapitalismus hat sich die Gnade des frühen Schnitts noch nicht verdient.

Als Marcel mit Junge über die tote Mutter spricht, merkt man, daß Junge für ihn längst zu einer Art Ersatzvater geworden ist – wahrscheinlich der Mensch, der ihn am besten kennt. Seinen Arbeitskollegen verrät er lieber nicht, wann der Film im ORB läuft. Denn sein Leben gibt es wirklich. Golzower Lebenswege, die DDR- Truman-Show. Andreas Becker

Forum: heute, 12 Uhr, Akademie der Künste; 18.30 Uhr Zoo Palast (Kino 7)