Berlinale-Anthropologie
: Eine Art Perversion

■ Der obskure Charme des Experimentellen

Mein alter Freund Theckel hält das für eine Art Perversion: daß ich mich immer wieder ohne Absicht in Experimentalfilmen wiederfinde. „Das erzählen doch die Psychoanalytiker. Die Frau, die bei jeder neuen Liebesgeschichte an einen Kerl gerät, der, wenn's zur Sache geht, die neunschwänzige Katze rausholt. Sie hat ihn zwar nicht gesucht, aber gefunden. Und genauso steht es mit dir und dem Experimentalfilm.“ Er läßt eine Art Kichern hören, das man auf englisch „chuckling“ nennt, ein Wort, welches das entsprechende Körperbibbern schön zum Ausdruck bringt.

Dabei war mein alter Freund Theckel einst selbst ein leidenschaftlicher Anhänger des Experimentellen. Weniger im Film denn in der Literatur (als deren Anhängsel er die entsprechenden Filme von Hans Richter bis Werner Nekes verstand). Konnte er nicht mit strenger Miene und ein paar Adorno-Zitaten den Erkenntnisvorsprung der Literatur (der Kunst) vor allen anderen Disziplinen rechtfertigen? Der Literatur eines Franz Mon, Gerhard Rühm und Hartmut Geerken, jawohl.

Mein alter Freund Theckel ordnet das Experimentelle und die Leidenschaft dafür inzwischen streng dem Lebensalter der Jugend zu. Der Jungmensch schwärmt für narratives Durcheinander, unscharfe Kameraeinstellungen, unvermuteten Wechsel von Schwarzweiß und Farbe, formalistische Konstruktionsprinzipien, die deklariert werden müssen, weil man sie sonst übersieht.

In der Tat, das Durchschnittsalter des Publikums wurde durch meine Anwesenheit wieder stark erhöht, und es füllte ordentlich den Kinosaal, wie Nicolas Humbert hocherfreut feststellte. Zwar gab's in der Mitte der 50 Minuten ein paar genervte Abgänge, aber der Beifall am Ende war lebhaft und wohlwollend, worüber sich Nicolas Humbert und Simone Fürbringer, selber jung, noch einmal freuten.

„Vagabonding Images“ heißt der Film, und ich könnte mich gleich auf die Hinterbeine stellen und meckern: „to vagabond“ gebe es meines Wissens im Englischen nicht, korrekt wäre „Vagabond Images“. Da hätte mich freilich in jüngeren Jahren der junge Theckel am Schlafittchen gepackt: Das ist doch ein Wortspiel, Dummski! Außer „vagabond“, umherschweifend, auch „bonding“! Und in der Tat, schon in den einleitenden Worten hatten Simone Fürbringer und Nicolas Humbert sich als Paar vorgestellt; Nicolas Humbert hatte Stan Brakhage angerufen, wie er mit seiner Familie in den Wäldern lebte; der schön gerundete Bauch einer Schwangeren war nackt zu bewundern gewesen, auch einige Sequenzen mit einem Kind.

Auch der Konstruktionsschematismus, den uns Nicolas Humbert erklärte, ist „bonding“. Das surrealistische Spiel, „Le cadavre exquis“, mit Worten ebenso wie mit Zeichnung durchzuführen, sei das Vorbild für den Schnitt gewesen. Du schreibst einen Satzteil auf das Papier, dann wird es umgeknickt, ich schreibe den nächsten Satzteil, ohne den deinen zu kennen. So seien sie verfahren beim Schnitt – freilich habe es dann eine Art Redaktion gegeben, die ein Minimum an continuity herstellte; als scharfer experimenteller Junghund hätte mein Freund Theckel hier lauthals die allerschärfsten Bedenken in den Kinosaal gebellt: Durch solche Anpassungsmaßnahmen werde das Nichtidentische der Bilder brutal subsumiert... (o.s.ä.)

Bemerkenswert an den experimentellen Verfahrensweisen, wie sie gerade den jungen Menschen begeistern, ist der adamitische Zug. Diskontinuität, extreme Bildausschnitte – so erfuhr ich erst durch den Abspann, daß es sich bei den in Nahsicht gefilmten Tierohren, -augen und -mäulern weder um Pferde noch um Rinder, sondern um Esel gehandelt hatte –, die unabweisbare Künstlichkeit der experimentellen Verfahrensweisen verschwindet, sie eröffnen scheinbar den Rückweg in die Natur. Bei Stan Brakhage, dem Amerikaner, ist es wie gesagt, David Henry Thoreau und das Leben in den Wäldern, das sich unmittelbar in seine Experimentalfilme einschreibe; bei Fürbringer & Humbert steht Rousseau, der alte Hexenmeister, im Hintergrund. Die nackte Frau, die weiß im blauen Wasser schwimmt. Das grasende Tier. Das dichte Schneien, in dem erst allmählich der Nadelwald erkennbar wird, auf den es fällt. Wir sollen vergessen, daß wir in einer großen Stadt im Kino sitzen und einem Experimentalfilm zuschauen; wir sollten meinen, wir lauschten Urworten, orphisch, vernämen das Seyn. Das Modernste, ein alter Traum, schließt das Archaische auf.

Gleichwohl, von Zeit zu Zeit seh' ich dies Alte gern, eine Art Perversion. Michael Rutschky

Foto: Von Zeit zu Zeit entsteht, ungewollt und unabweisbar, ein experimentelles Bild.