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: Kleiner Klassiker

■ Erich Kästners 100. Geburtstag wird mit beträchtlichem Buchausstoß bejubelt

Angesichts der immer geringer werdenden Verfallsdaten von Literatur bilden zunehmend Jubiläen das Kraftfutter des literarischen Marktes. Mit Goethe steht in diesem Jahr der Klassiker aller Klassiker zum Abfeiern bereit. Zuvor gilt es aber noch einen Autor zu verdauen, der mit seinem erklärten Stilideal, seine Sachen mögen „wie hingespuckt“ wirken, zum Klassiker kaum zu taugen scheint – und der dennoch einer geworden ist, zumindest im Bereich des Kinderbuchs. Die Rede ist von Erich Kästner, dessen 100. Geburtstag am 23.2. begangen und mit einem beträchtlichen Ausstoß an neuen und alten Büchern bejubelt wird.

Zwar liegt fast das gesamte Werk in Einzelausgaben bei dtv vor, wo vor allem Unverwüstliches wie „Das doppelte Lottchen“ – durch diverse Verfilmungen inzwischen vervier- bis verachtfacht – oder „Emil und die Detektive“ für krisensichere Umsätze sorgt. Gleichwohl wirft der Hanser Verlag jetzt eine neunbändige Werkausgabe in zwei Versionen auf den Markt, einer gebundenen und einer broschierten: Die mehr als 5.000 Seiten gibt's in dieser Form zum wohltätigen Kampfpreis von 99 Mark.

Wo derartige Jubiläen drohen, sind natürlich auch die Biographen zur Stelle. Zwei ziemlich massive und repräsentative Biographien sind als Hardcover erschienen; beide haben ihre Verdienste, keine bringt wirklich Neues zutage. Kästners Leben ist längst einigermaßen rückstandsfrei dokumentiert, und das Zwielicht seines eher anpasserischen denn widerständischen Verhaltens zwischen 1933 und 1945 wird hie wie dort nicht heller. Wer also Kästners Biographie zwischen nahezu inzestuöser Mutterbindung und wüstem Schürzenjägertum, zwischen sprichwörtlich gewordenen Sentenzen wie „Es gibt nichts Gutes – außer: man tut es“ und längst schal gewordenen Kabarett-Couplets, zwischen Illustriertenklatsch und erstaunlich scharfer Kritik gegen die Adenauersche Restauration, zwischen Mitläufertum im Dritten Reich und hilflosem Antifaschismus nachvollziehen möchte, der ist mit dem Angebot, das der Taschenbuchmarkt macht, bestens bedient.

Zum ersten gibt es da Helga Bemmanns solide, gut lesbare, wenn auch gelegentlich etwas tantig-treuherzige Biographie, die erstmals 1994 erschien. Uneingeschränkt empfehlenswert ist jedoch Isa Schikorskys knappe und klare biographische Studie, die in der Reihe dtv- Portrait erschienen ist – eine Reihe, die den legendären rororo-Monographien immer erfolgreicher Konkurrenz macht. Warum das so ist, zeigt auch der Kästner-Band schlagend: Ein kompetenter, unverquatscher Text, aufbereitet mit zahlreichen, teilweise farbigen Abbildungen und abgesetzten Textblöcken, in denen zentrale Zitate, Kurzbiographien zu Nebenfiguren oder auch knappe Hintergrundinformationen geliefert werden (hier etwa zu Themen wie „Weltbühne“ oder „Weltwirtschaftskrise“).

Kästner hatte, anders als manche Schriftstellerkollegen, keine Berührungsängste zum Film. Schon vor der Verfilmung seines Kinderromans „Emil und die Detektive“ von 1931 hatte er Drehbücher verfaßt, und er arbeitete kontinuierlich an eigenen und fremden Filmstoffen mit. Sein hochgradig widersprüchliches Überwintern im Nationalsozialismus verdankte er wesentlich den guten Kontakten zur Filmindustrie, die ihren Höhepunkt mit Kästners Drehbuch zum legendären „Münchhausen“-Film von 1943 fand. Ingo Tornows Studie „Erich Kästner und der Film“ bietet eine komplette und detaillierte Dokumentation dieses ansonsten wenig beachteten Werkkomplexes. Verschwiegen sei nicht, daß besonders die nach 1945 entstandenen Filme zumeist üble Klamotten waren.

Aber vermutlich ist es gerade der Mut zu Seichtheit, trivialem Ulk und Kolportage, der diesen Autor tatsächlich zu einer Art Volksschriftsteller gemacht hat. An seinem viel gelobten, vielleicht auch viel überschätzten Roman „Fabian“ oder an seiner politischen Publizistik, besonders der aus der unmittelbaren Nachkriegszeit, hat es bestimmt nicht gelegen. Gerade diese Publizistik aber zeigt, daß Erich Kästner mehr war als nur der leicht oberlehrerhafte Literaturonkel, als der er sich, seines großen Erfolges zuliebe, leider selbst häufig präsentiert hat.

Der Linken galt er als zu me- lancholisch, der Rechten als zu frivol, der Germanistik als zu volkstümlich und demnach trivial – seinen zahlreichen Lesern war und ist all dies völlig egal. Er ist wohl ein kleiner Klassiker geworden. Klaus Modick

Erich Kästner: „Werke in 9 Bänden“. Herausgegeben von Franz Josef Görtz, Carl Hanser Verlag, München 1998, 99 DM

Helga Bemmann: „Erich Kästner – Leben und Werk“. Ullstein, 19,90 DM

Isa Schikorsky: „Erich Kästner“. dtv, 14,90 DM

Ingo Tornow: „Erich Kästner und der Film“. dtv, 24,90 DM