Nichts mehr schuldig bleiben

Rehabilitierung des Vergessens und penible Erinnerungsarbeit: Monika Maron recherchiert in „Pawels Briefe“ die Geschichte ihrer Familie über drei Generationen, drei Weltanschauungen und ein Jahrhundert – eine Reportage auf den Spuren deutscher Geschichte  ■ Von Jörg Magenau

Monika Maron war eine der wenigen Schriftsteller, die ihrem Kollegen Martin Walser in der Debatte um dessen Friedenspreisrede beigesprungen sind. Sie tat das ein wenig pathetisch und, wie sie selbst formulierte, „zitternd vor Kühnheit“, so daß sie mehr Spott als Zustimmung erntete. Doch gerade ihr Einspruch war naheliegend, geht es doch in ihrem Werk – ebenso wie in den jüngeren Arbeiten von Martin Walser – explizit um die komplexe Funktionsweise der Erinnerung. Maron folgt Walser in der Erkenntnis, daß Erinnerung immer eine nachträgliche Konstruktion von Zusammenhängen ist, daß also das, woran ein Mensch sich erinnert, nie mit dem identisch ist, was war. Und dennoch bedeutet es eben keinen Einspruch gegen die Vergangenheit, wenn man darauf beharrt, die Gedächtnisarbeit zu problematisieren.

In ihrem Roman „Animal triste“ (1996) hatte Maron den Vorgang des Erinnerns mit der Perlenbildung in einer Muschel verglichen: Zuerst sei da nur ein lästiger Fremdkörper im Innern des Gedächtnisses, aber um ihn herum bilde sich langsam eine kratzfeste Perlmuttschicht, bis ein geschliffenes, rundes Ding mit glatter Oberfläche entsteht. „Vergessen ist die Ohnmacht der Seele“, formulierte sie in diesem Roman und versuchte damit, das Vergessen als Überlebensmittel zu rehabilitieren und aus dem schuldbehafteten Kontext des Verschweigens und der Lüge herauszulösen.

An diesen Gedanken knüpft sie nun mit „Pawels Briefe“ an – ein Buch, das im Untertitel die Gattungsbezeichnung „Familiengeschichte“ erhielt. Es ist eine persönliche Recherche über drei Generationen und ein Jahrhundert – eine Suche nach Herkunft und Tradition, die in ihrem Antrieb an Christa Wolfs „Kindheitsmuster“ erinnert – allerdings ohne deren literarische Komplexität und mit einem entscheidenden Unterschied: Es geht – durchaus 90er-Jahre-typisch – nicht mehr um die Geschichte des Nationalsozialismus aus der Perspektive kleinbürgerlicher Mittäterschaft, sondern um eine Rückschau aus der Sicht einer Familie, die in der NS-Zeit zu den Opfern, in der DDR aber zu den Aktivisten gehörte. Vielleicht liegt darin auch die Antwort auf die Frage, mit der Maron ihr Buch beginnt, warum sie nämlich erst jetzt diese Geschichte aufgeschrieben hat: weil es zeitgemäß ist.

„Pawels Briefe“ beginnt auf der Spur eines schier unglaublichen Vergessens. Marons Mutter Hella findet auf dem Dachboden Briefe ihres Vaters Pawel Iglarz, die er kurz vor seiner Ermordung im Ghetto Belchatow im Sommer 1942 an die in Berlin zurückgebliebenen Kinder schrieb – nicht ohne sich stets nach dem Wohlbefinden der „kleinen Monika“ zu erkundigen. Hella kann sich an diese Briefe nicht erinnern, nicht einmal an die, die sie selbst an ihren Vater schrieb und mit denen sie nun plötzlich wieder konfrontiert wird.

Dieses erschreckende Erlebnis ist für Mutter und Tocher Ausgangspunkt ihrer Erinnerungsarbeit und zugleich ein Beleg dafür, daß Vergessen nicht zwangsläufig schuldbehaftet sein muß. In diesem Fall steht es selbst in der Kontinuität der Familientradition: Der Großvater Pawel, ein Schneidergeselle, konvertierte in jungen Jahren vom Judentum zum Baptismus – ein radikaler Bruch. In der Baptistischen Gemeinde in Lodz lernte er seine spätere Frau Josefa kennen, die vom Katholizismus konvertiert war. Gemeinsam gingen sie nach Berlin, weil sie hofften, dort der Armut leichter entkommen zu können. Niemals, so berichtet Hella ihrer Tochter Monika, wurde in der Familie danach über die jüdische Herkunft Pawels gesprochen – wohl weil er von seiner Geschichte selbst nichts mehr wissen wollte. Das änderte aber nichts daran, daß er schließlich als Jude deportiert und ermordet wurde. Denn wer Jude war, bestimmten allein die Nazis.

Maron versucht, aus den Hinterlassenschaften – Fotos, Briefe, Erinnerungen – das Leben der Großeltern zu rekonstruieren. Wie war das in Neukölln in den 20er Jahren? Wie lebte man da zusammen in der großen Küche, die zugleich auch Schneiderwerkstatt war? Ist Hellas Erinnerungen zu trauen, die behauptet, eine makellos glückliche Kindheit gehabt zu haben und Eltern, die ihr alle Freiheit ließen? Die beigegebenen Bilder aus dem Maronschen Familienalbum dienen dazu, alle Zweifel am authentischen Charakter der Reportage zu beseitigen: Pawel und Josefa mit den Söhnen Paul und Bruno im Volkspark. Josefa mit einem absurden, tortenhaften Hut auf dem Kopf oder mit Schürze beim Spülen. Pawel als junger Mann in Lodz, im Berliner Radfahrverein und schließlich mit hoffnungslosem Blick 1939: Pawel, das Opfer. Josefa, die ihn in die Verbannung nach Polen begleitete, starb noch vor ihm an Krebs; Hella schrieb an ihren Vater, er müsse „versuchen, darüber hinwegzukommen“, und kann es nun, beim Wiederlesen, kaum fassen, einen so rohen Satz zu Papier gebracht zu haben.

Erinnern, sagt Monika Maron, ist das falsche Wort für ihre Recherche. Es geht ja nicht darum, etwas Verlorenes aus dem eigenen Erleben zutage zu fördern, sondern eine Geschichte auszumalen, die nur in groben Konturen vorhanden ist. Erinnerungsarbeit ist Rekonstruktion und arbeitet mit Einbildungskraft, um die Lücken plastisch aufzufüllen: „Ich sehe meinen Großvater, ein schmaler Schatten, der über das Pflaster der Ghettostraßen gleitet. Seine Schuhe sind abgetragen, er kann sie nicht zur Reparatur geben, weil er nur diese besitzt...“

Marons Erinnerungsrecherche wird von einem aus früher Kindheit stammenden Gefühl angetrieben, dem nur von Fotos bekannten Großvater etwas schuldig zu sein. „Daß mein Großvater als Jude umgekommen war, daß er dem Leben etwas schuldig bleiben mußte, weil man ihn gehindert hatte, es zu Ende zu leben, und daß darum ich ihm etwas schuldete, mag für meine Wahl den Ausschlag gegeben haben.“ Wichtig ist dabei die kleine Verschiebung von „Schuld“ zu „etwas schuldig sein“: von der moralischen auf die pragmatische Ebene also. Mit dieser Haltung läßt sich genauer hinsehen. Der Erinnerungsarbeit wird damit alles religiöse Pathos genommen, es ist eine persönliche Angelegenheit der Monika Maron und ihre Auseinandersetzung mit ihrer Familie.

Die Verdrängung der jüdischen Wurzeln der Familie führt jedoch zugleich tief in die offizielle Erinnerungspolitik des Staates DDR hinein, der sich als antifaschistisch verstand und doch die jüdische deutsche Vergangenheit dem Vergessen überantwortete. Maron, deren Mutter nach dem Krieg einen sozialistischen Funktionär heiratete, der 1955 DDR-Innenminister wurde, die also als strammes FDJ- Mädel aufwuchs, spricht diese Kongruenz zwischen offizieller und familiärer Verdrängung nirgends aus – und doch legt ihre Geschichte, die zugleich auch eine Auseinandersetzung mit der sozialistischen Mutter und ihrer Welt ist, gerade diesen Schluß nahe.

Am meisten Schwierigkeiten hat Maron, mit dem Parteieintritt des Großvaters in die KP zurechtzukommen. Ihn, den sie so verehrt, will sie sich einfach nicht in einer kommunistischen Parteiversammlung vorstellen. Kommunismus – das war einmal ein schöner Kinderglaube und ist nun nicht viel mehr als die Erinnerung an eine bornierte, autoritäre, kleinbürgerliche Funktionärswelt, in der es nahelag, zur Antikommunistin zu werden. Der Bruch mit der Herkunft ist eine der großen Konstanten dieser Familiengeschichte, wie Maron sie als Spiegelbild der deutschen Geschichte des 20. Jahrhunderts inszeniert: Auf die Religiosität der Großeltern folgte der Sozialismus der Eltern und darauf der eigene Antikommunismus, den Maron stolz vor sich her trägt, ohne zu bemerken, daß er am Ende der 90er Jahre, losgelöst von der DDR-Wirklichkeit und mitten in einer sich durchaus Marx-gerecht verhaltenden kapitalistischen Weltgesellschaft, ein bißchen dumm geworden ist.

Vielleicht haben Marons unglückliche politische Äußerungen mit solcher biographisch begründeten Selbstgerechtigkeit zu tun. Zuletzt fiel sie mit einem Interview im französischen Magazin Le Point auf, wo sie einen „antideutschen Rassismus“ beklagte. Es sei unerträglich, daß „die Nachbarländer uns gegenüber stets eine Haltung des Mißtrauens einnehmen“, sagte sie. Ein rechtsextremistisches Wählerpotential gebe es schließlich überall, doch in Deutschland werde es stets in Relation zur Nazi- Vergangenheit gesetzt. „Alle Länder der Welt erlauben es sich, die Deutschen zu beleidigen, und ich frage mich manchmal, ob wir nicht völlig verrückt sind, daß wir uns nicht zu wehren wagen.“ Starke, sichtlich beleidigte Worte – und es ist eines von Marons Geheimnissen, wie sie zu sensibler Vergangenheitsrecherche fähig sein kann, um dann wieder mit holzgeschnitzter Parolenhaftigkeit zu überraschen. Doch der Grat zwischen literarischer Differenziertheit und politischer Grobschlächtigkeit ist bei Maron gering. Was im Buch als Unterscheidung zwischen „Schuld“ und „etwas schuldig sein“ produktiv gemacht wird, kann auf der politischen Ebene leicht zur Parole der Schlußstrichfraktion werden. Das zu sehen gehört aber auch in den Verantwortungsbereich einer Autorin.

Das Buch endet mit Marons Ärger über den Jubel ihrer Mutter nach der Bundestagswahl, als die PDS den Einzug ins Parlament schafft. Laß sie doch, sagt Sohn Jonas, Vertreter der vierten Generation, „so ist sie eben“. Die Gelassenheit des Nachgeborenen, des ersten „Nichtkonvertiten seit vier Generationen, der gar nicht konvertieren kann, weil er auf keinen Glauben eingeschworen ist“, ist so etwas wie ein Hoffnungsschimmer am Ende des Jahrhunderts.

Monika Maron: „Pawels Briefe. Eine Familiengeschichte“. Fischer Verlag, Frankfurt/Main 1999, 208 Seiten, 38 DM