Hungertod in der schwedischen Psychiatrie

■ TV-Sender erhebt Vorwurf versteckter Euthanasiepraxis in den Jahren 1941 bis 1943

Stockholm (taz) – In der zentralen Psychiatrie für besonders schwer Kranke, der Vipeholmsanstalt in Lund, trat zwischen 1941 und 1943 ein seltsames „Phänomen“ auf. In einer Patientengruppe magerten mehrere hundert Kranke in kurzer Zeit rekordschnell ab und starben. Der faktische Hungertod, für den in den Patientenjournalen jedoch meist andere Todesursachen stehen, betraf fast nur die Gruppe, die mit der damaligen Fachideologie bezeichnet wurde als „die der schwer zu pflegenden Idioten, die biologisch gesehen niedriger stehen als eine Vielzahl von Tierarten“.

In einer gestern im schwedischen Fernsehprogramm TV 4 ausgestrahlten Dokumentation wurden diese Todesfälle aufgegriffen, die dazu führten, daß die Todesrate in dieser Anstalt höher lag als in vielen deutschen psychiatrischen Anstalten zu dieser Zeit, in denen die Euthanasiepolitik der Nazis systematisch betrieben wurde. Der Vorwurf: In Vipeholm wurde stillschweigend eine Art faktische Euthanasie praktiziert.

Die Zahlen sind aufsehenerregend. Die Versorgungsprobleme der Kriegszeit trafen auch Schweden. Verbunden mit Personalmangel führte dies auch in anderen Kliniken und psychiatrischen Anstalten zu einer Steigerung der Todesrate zwischen 1941 und 1943 um neun Prozent. Die Vergleichszahl für Vipeholm: 232 Prozent. Für diese Steigerung steht allein die Gruppe der männlichen „schwer zu pflegenden Idioten“.

Als Ursache dieses Ansteigens der Todesrate schreibt der damalige Chefarzt in seinem Jahresbericht für 1942: „Die Steigerung muß ihre Ursache in der biologischen Minderwertigkeit dieser Patienten haben.“ Der gleiche Chefarzt im Jahresbericht für 1943: „Die am tiefsten stehenden minderwertigen Patienten vermochten sich nicht an die nötigen Einschränkungen anzupassen.“ Die staatliche Medizininspektion, die auf die gestiegene Todesrate aufmerksam wurde, gab sich mit dieser Erklärung zufrieden.

Die von TV 4 ausgewerteten Patientenjournale belegen, daß in 90 Prozent aller Fälle dem Tod dramatische Gewichtsminderungen vorausgingen. Einzelne Erwachsene wogen bei der letzten Gewichtskontrolle nicht mehr als 17 Kilo. Eine Obduktion fand durchweg nicht statt, trotzdem sind Lungenentzündung, Tbc und andere Infektionskrankheiten als Todesursache angegeben. Von Verhungern ist nirgends die Rede. Es gab auch Richtlinien, wonach trotz Rationierung der Lebensmittel die Ärzte angewiesen waren, auf ein stabiles Gewicht ihrer PatientInnen zu achten. Für den TV-Journalisten Thomas Kanger steht fest: Die eigentliche Todesursache war Verhungern, auch „wenn andere Krankheiten durch den Nahrungsmangel ausgelöst wurden“.

Ehemalige Mitarbeiter in Vipeholm betonen die damalige Ausnahmesituation: zum Militär eingezogenes Personal, Überbelegung, Mangel an hochwertigen Nahrungsmitteln. Erklärungen, die nicht ausreichen, die selektive Sterbewelle in Vipeholm zu erklären. Nach Enthüllungen über Sterilisationen und Verstrickungen in Geschäfte mit Nazigold steht Schweden ein weiteres dunkles Kapitel der Aufarbeitung verdrängter Vergangenheit bevor. Reinhard Wolff