Allein unter Frauen

Zu Helmut Baumanns Abschied: Das Musical „Nine“ als deutsche Erstaufführung am Theater des Westens  ■ Von Axel Schock

Im Sommer verläßt Helmut Baumann seinen Intendantensessel, und zuvor macht er sich selbst noch ein Abschiedsgeschenk. „Nine“, das Musical von Maury Yeston (Musik) und Arthur Kopit (Buch), stand schon viele Jahre auf seiner Wunschliste. Das Wagnis aber schien ihm bis dato zu groß zu sein, denn „Nine“ ist trotz seiner berühmten Vorlage, Fellinis Filmklassiker „81/2“, in Europa nahezu unbekannt. Und auch Maury Yeston kennt man hierzulande kaum, obgleich er derzeit mit seiner „Titanic“ am Broadway Furore macht.

Daß „Nine“, immerhin bereits 1982 in New York uraufgeführt und damals mit fünf Tonys ausgezeichnet, es bislang noch nicht bis in unsere Theater geschafft hat, liegt sicher nicht an der Musik. Die ist eingängig, wenn auch nicht gerade mit Ohrwurmhits durchsetzt, doch abwechslungsreich und von geradezu symphonisch-dramatischer Intensität.

Das Hauptproblem bei einer Inszenierung liegt in der ungewöhnlichen Besetzung: Da steht zwar im Zentrum ein Mann, der Filmregisseur Guido Contini, mitsamt seiner Schaffens- und Lebenskrise, um ihn herum aber sind ansonsten nur noch Frauen. Gut 30 an der Zahl, die Meister Contini hinterherhecheln. So viel weibliches Potential überfordert die meisten Ensembles, zumal fast jede der Frauen sowohl mit großer Songnummer als auch anspruchsvollen dramatischen Aufgaben betraut ist.

Helmut Baumann jedoch kann zeigen, welches Ensemble er im Laufe der vergangenen Jahre herangebildet hat. Ob Michelle Becker als überkandidelte französische Filmproduzentin, Sylvia Wintergrün als betrogene Ehefrau des Regisseurs und Frauenhelden Contini oder Pascale Camele als dessen Geliebte – eine Besetzung, die sich durch die Bank sehen und hören lassen kann.

Die Schauspielerin Claudia etwa (mondän gestylt und stimmlich brillant: Renée Knapp) ist sich zu schade, nur Aushilfsmuse zu sein, und fordert auch für sich ein Ende des künstlerischen Stillstandes. Sylvia Wintergrün als Ehefrau Luisa duldet in verzehrender Liebe die sexuellen Eskapaden ihres Mannes, bis sie ihr Schicksal in seinem neuen Filmprojekt („Casanova in Venedig“) der Öffentlichkeit zur Belustigung ausgeliefert sieht und ihn verläßt.

Solche Momente inszenieren Helmut Baumann und Jürg Burth sehr gefühlvoll und mit bemerkenswerter Liebe zum Detail. Diesen starken weiblichen Charakteren gibt das Regieduo genügend Spielraum, um sich zu entfalten. Oder aber um als groteske Fellini- Gestalten aufzutrumpfen. Wie etwa Christiane Mueller als Chefin der Hausmädchen im Thermalbad von Venedig, in dem ein großer Teil der Handlung stattfindet, den berühmten Regisseur umgarnt. Wie Anne Welte als dickbusige Hure den Knaben Guido am Strand in die Geheimnisse des Machimo einweiht.

Von solch überzeichneten, kreischenden und schrill kostümierten Persönlichkeiten voll extrovertierter Weiblichkeit, immer nahe am groben Klischee (also immer knapp vor einer Transenshow), bekommt die Inszenierung ihren Teil Glamour und Showwert (Kostüme Kathrin-Susann Brose). Für Eleganz und stilvolle Monumentalität sorgt Katrin Keglers praktikables Bühnenbild mit Bildprojektionen und wenigen, ausgesuchten Kulissenteilen, die schnelle Szenenwechsel ermöglichen. Daß jedoch ausgerechnet der einzige männliche Part, das Zentrum des Stücks, so lau und farblos daherkommt, überrascht dann doch.

Denn Alfred Pfeifers Contini behauptet im Dialog zwar viel von seiner Zerrissenheit, seiner Lebens- und Liebeskrise, aber er zeigt sie kaum. Dieser Guido Contini wirkt viel zu apathisch in seinem Identitätsproblem, als daß er uns wirklich berühren könnte. Wenn ihn nach und nach die Geliebten verlassen, dann ist uns sein Schicksal ziemlich egal. So wird der Hahn im Korb schnell zur Nebensache. Dieser Abend gehört ganz allein den Frauen. Axel Schock

Bis 30. Juni, dienstags bis samstags 20 Uhr, sonntags 18 Uhr, Theater des Westens, Kanststraße 12