„Wir brauchen die Schule nicht mehr!“

■ Wem gehört die Zukunft der Bildungspolitik? Den Parteien fällt nichts ein, am allerwenigsten den Grünen, Privatinitiativen sprießen

„Es wird Zeit, daß wir Menschen nicht mehr ausbilden, sondern bilden“, sagt er und fordert „Menschen, die nein sagen können. Selbstbewußte Leute sind auf Dauer die einzige Ressource. Alles andere ist Blech, Beton und tote Materie.“ Wer das sagt? Etwas Geduld bitte.

Erste Szene: Computerkönig Bill Gates kommt überraschend in die Gesamtschule Bonn-Beul. Auch Gerhard Schröder eilt zur großen Visite. Bill Gates verleiht zusammen mit dem Bundeselternrat Preise an Schüler und kündigt große Spenden an. Die Industrie wirbt um Eltern als Bündnispartner. Es geht darum, Hard- und Software an den Schüler zu bringen. Der Zeitpunkt ist gut gewählt. Seit Monaten bebt die Bildungslandschaft – allerdings nur vor Resolutionen und Memoranden. Die Gründe für den notwendigen Aufbruch sind alle gesagt. Außer von den Parteien, denen fällt nichts ein. Den Grünen am allerwenigsten. Wer übernimmt die Initiative?

Zweite Szene: In Dallas/USA findet am letzten Januar-Wochenende der große „Anytime Anywhere Learning“-Kongreß statt. Es ist ein Erfahrungsaustausch über die Arbeit mit Laptops in Schulen. Und tatsächlich, Computer werden zu einem Medium, das die Welt des Wissens und des Lernens neu strukturiert.

Unübersehbar ist die Chance der Lernenden zu größerer Unabhängigkeit. Dafür gibt es faszinierende Beispiele. Sie alle stehen unter der großen Überschrift „Selbstorganisation“. Lehrer werden dabei Mentoren und selber Lernende. Der Lehrplanbeamte hat so wenig Zukunft wie Schulklassen, die nach Altersjahrgängen einberufen werden wie Soldaten. Die alte Zentralfigur abendländischer Bildung, der Lehrer, schwankt, ja, sie wird kippen, wenn sie kein neues Gleichgewicht findet. Das mächtige Werkzeug Laptop stärkt die Lernenden, nicht die Lehrenden. Die gesteigerte Individualität der Lernenden verlangt geradezu nach Kooperation, genauso wie der einsame Computer das große Netz, das Internet, nach sich gezogen hat.

Dritte Szene: Mitte Januar wurde der 70. Geburtstag des Recken der Bildungsreform, Reiner Brockmeyer, gefeiert. Brockmeyer zog über viele Jahre als Ministerialdirigent die Fäden der Schulpolitik in NRW. Er war der Spiritus rector der Denkschrift „Schule der Zukunft“. Nun sagt er der Bertelsmann Stiftung, wo es in Bildungsfragen längs geht. Zu seinem Geburtstagssymposium treffen sich die Grandseigneurs aus Bildungsforschung und Kultusministerien. Dort fällt der Satz: „Die Schule des 20. Jahrhunderts brauchen wir nicht mehr!“ Das sagte Uri Peter Trier, Direktor des Forschungsprogramms „Wirksamkeit der Schweizerischen Bildungssysteme“. Trier formuliert den leisen und vorsichtigen Common sense dieser Runde, überwiegend aus Beamten mit einem Durchschnittsalter über 60. In der Diagnose der skandalösen Wirkungslosigkeit der Schulen sind sich diejenigen nun einig, die in den 70er und 80er Jahren Kulturkämpfe über Rahmenrichtlinien, Gesamtschulen und Co. ausgefochten haben. Nur, wie soll die berühmte „Schule der Zukunft“ aussehen?

„Die Schule muß eine Art Forum werden“, sagt die Oberstufenschülerin Judith Müller, die jüngste Teilnehmerin beim Geburtstagssymposium, „hier müssen spannende Leute zusammenkommen.“ Die Schule lebenslänglicher Lehrer und unfreiwilliger Schüler ist am Ende. „Die Schule der Zukunft muß ein Ort werden, wo man viele Frameworks, Beziehungs- und Gedankenmuster kennenlernt und dabei sein eigenes Gerüst bildet“, verlangt Anne Sliwka von der Bertelsmann Stiftung. „Eines darf diese Schule nicht mehr: nur aufs spätere Leben vorbereiten“, provoziert auf dem Symposium der Wirtschaftswissenschaftler Peter Meyer-Dohm. Worauf es ankomme, sei „die Fähigkeit zur Selbstorganisation“. Das sei das neue Paradigma. „Schüler lernen Selbstorganisation nur in einer Schule, die sich selbst organisiert.“ So einfach und so schwierig.

Vierte Szene: Der Kongreß „Envisioning Knowledge“ Anfang Februar in München. Der Hirnforscher Ernst Pöppel hält zur Eröffnung einen großen Vortrag über das Thema „Sehen – Sagen – Tun“. Ein Plädoyer für eine Bildung, die nicht mehr vor allem im „Darüber- Sprechen“ besteht. Unser schulischer Begriff vom Wissen sei erbärmlich eng. Ist es dort deshalb so langweilig? Neben dem Verbalen gäbe es „implizites Handlungswissen“, das im Gehirn viel Raum einnimmt, aber in der Schule chronisch unterstimuliert sei. Pöppel sagt: „Man ist gebildet, wenn man etwas kann, nicht, wenn man darüber reden kann.“ Der Hirnforscher kann zeigen, daß unser Handlungswissen dauernd im Fluß ist. Es wird durch „dynamische Bilder“ zusammengehalten und ständig neu interpretiert. Die Hälfte des Gehirns sei mit Visualisierungen befaßt. Das heißt nicht nur Bilder angucken und Fernsehen konsumieren. Visualisierung heißt, sich Bilder machen: Imagination; Einbildung, Bildsamkeit. Warum nur ist unsere Bildung so bilderfeindlich? Kinder, so Pöppel, die heute mehr in Bildern als in Sätzen denken, „haben anders strukturierte Gehirne als wir Erwachsene“, und sie sind dabei in größerem Einklang mit unserer Hardware, dem Gehirn.

In einer „Schule der Zukunft“ wird das Darüber-Reden nicht mehr im Zentrum stehen. Ihre ganze geistige Architektur steht zur Debatte. Deshalb ist es so schwer, den nächsten Schritt einer Reform zu machen. Er ist groß. Man muß die Schule völlig neu denken! Sie nicht so sehr von den Fächern, sondern von den Räumen her entwerfen! Die Schule muß von den Personen, die dort auftreten, her konzipiert werden! Das Monopol der Lehrer, die nichts als Lehrer sind, ist allerdings eines der größten Tabus. Aber die Lehrerschule bekommt Konkurrenz.

Die Stiftungen der Medienkonzerne übernehmen die Initiative. Die Bertelsmann Stiftung hat einen Initiativkreis Bildung gegründet, der Veränderungen des „Lernens in der Informationsgesellschaft“ vorantreiben soll. Im Zeitalter des Internets werde eine Bildung, die wie bisher mehr oder weniger auf Anwesenheitspflicht basiert, oft bei innerer Abwesenheit, bald völlig umgekrempelt sein. Die Orte, an denen man sich trifft, müssen Foren und Werkstätten werden. Der Münchner Kongreß „Envisioning Knowledge“ wurde von der Burda Akademie veranstaltet. Und natürlich, hinter dem Kongreß in Dallas, „Anytime Anywhere Learning“ steht die Computerindustrie. Und wem das noch nicht reicht: Das Geburtstagssymposium für den alten Sozialdemokraten Reiner Brockmeyer wurde von der Bertelsmann Stiftung ausgerichtet. Jetzt wird manch einer mit Agententheorien und Kapitalismushypothesen sein Weltbild wieder in Ordnung bringen. Man könnte natürlich auch sagen, diejenigen, die das Lernen wirklich verändern wollen, bekommen potente Bündnispartner. Dazu das Zitat vom Anfang: „Wir brauchen Menschen, die nein sagen können. Selbstbewußte Leute sind auf Dauer die einzige Ressource. Alles andere ist Blech, Beton und tote Materie.“ Das sagt Richard Gaul, Sprecher des BMW-Vorstands. Neue Bündnisse wären tatsächlich möglich. Wer ergreift sie? Und warum nur tut sich bei Schülern, Eltern und bei den Profis fürs Lernen, den Lehrern, so wenig?

Letzte Szene: Seit Wochen versucht in Hamburg eine Gruppe von Eltern, Schülern und einigen wenigen Lehrern, ein „Bündnis für Bildung“ zu starten. „Es muß für die heutigen SchülerInnen noch während ihrer Schulzeit erlebbare Veränderungen in Inhalten und Ausstattungen der Schulen geben“, so der Aufruf. Aber es sind einige noch mächtige Lehrerfunktionäre, die, als wollten sie beweisen, daß Lernen das Gegenteil von Belehren ist, den Aufruf torpedieren. Sie sehen in der Initiative einzelner Schulen das Gespenst von Neoliberalismus und Privatisierung. In der Lehrergewerkschaft GEW wird tatsächlich diskutiert, die Mitarbeit an „Schulprogrammen“, mit denen sich Schulen Leitbilder geben sollen, zu verweigern, wenn es nicht mehr Geld und Stellen gibt. Sollten die Lehrer sich damit durchsetzen und weiter ihren wehleidigen Willen zur Ohnmacht pflegen, dann allerdings übernehmen vielleicht bald King Bill Gates und die Seinen das Zepter. Das wäre eine neue Situation. Aber den depressiven Zirkeln in den Lehrerzimmern wird man nicht nachtrauern. Reinhard Kahl