„Seit 1986 arbeitet Öcalan gegen den Befreiungskampf der Kurden“

■ PKK-Aussteiger und Öcalan-Kritiker Selim Çürükkaya über den verhafteten PKK-Chef und die Zukunft der kurdischen Organisationen

taz: Herr Çürükkaya, in den ersten Videoaufnahmen hat Abdullah Öcalan seinen Fängern gesagt, er wolle der Türkei dienen. Hat Sie das überrascht?

Selim Çürükkaya: Überhaupt nicht. Das entspricht seiner Persönlichkeitsstruktur. Er redet und handelt ganz nach dem Munde dessen, unter dessen Kontrolle er ist. Seit 1986 arbeitet Öcalan gegen den nationalen Befreiungskampf der Kurden. Seine Aktivitäten standen unmittelbar im Dienst Syriens, mittelbar im Dienst der Türkei.

Was heißt das konkret?

Die Staaten im Nahen Osten, wo Kurden leben – die Türkei, der Irak, Iran und Syrien – wollen nicht, daß das Kräfteverhältnis sich zugunsten der Kurden verschiebt. Wenn kurdische Organisationen entstehen, die sich dem nationalen Befreiungskampf verschreiben, tritt ein Staat als Unterstützer auf, nimmt die Organisation unter seine Kontrolle, macht sie abhängig und entdemokratisiert sie. Zum Schluß steht die Liquidierung. Das liegt im Interesse aller Staaten. Ein letztes Beispiel sind die Kämpfe zwischen der KDP und der PKK im Nordirak, wo fast 10.000 Guerilleros und Peschmergas starben. Öcalans Waffen kamen von Syrien, die Waffen der KDP Mahmut Barzanis von der Türkei, die Waffen der PUK Jalal Talabanis von Syrien und dem Iran.

Nach der Entführung und Inhaftierung Öcalans kam es in ganz Europa zu teils gewalttätigen PKK-Aktionen. Offenkundig ist doch, daß Tausende ganz fest mit ihrem Führer verbunden sind. Wie erklärt sich das?

Das ist eine Bindung, wie sie Jünger zu ihren Gurus haben. In Kürze werden sie merken, daß das dem kurdischen Volk nicht in geringster Weise nützt, sondern schadet. Das läßt sich nur durch die Geschichte der PKK erklären. In den Anfängen war das Zentralkomitee der PKK intakt. Es kam zu gemeinsamen Entscheidungen und über Politik wurde diskutiert. Es gab Parteikongresse. Es war trotz allem eine politische Partei, die über eine Satzung verfügte. Nach 1986 wurden die Führungskräfte in der PKK mit Komplotten ausgeschaltet. Danach war alles auf eine Person zugeschnitten. Es folgte der Personenkult wie in vielen totalitären Regimen.

Wie ist das Verhältnis kurdischer Intellektueller zur PKK?

Der Putsch von Öcalan in der PKK hat die aufrechten Intellektuellen in der Partei entweder liquidiert oder zum Schweigen gebracht. Die Intellektuellen außerhalb der PKK haben in den achtziger Jahren die PKK heftig kritisiert. Aber dann entstand eine Volksbewegung. Und Leute, die am Rande gestanden hatten, biederten sich bei Öcalan an, weil sie von den Möglichkeiten der PKK profitieren wollten. Sie verfaßten Lobeshymnen auf Öcalan.

Was wird in der Post-Öcalan- Periode passieren? Wird die PKK als Organisation überleben können? Wird sie auseinanderfallen? Wird es einen neuen Führer geben?

Ich hoffe nicht, daß die PKK mit dieser Organisationsform – einer ist der Chef und die anderen gehorchen – überlebt. Mit dieser Hierarchie, mit Komplotten und Intrigen wird man nicht zu einer politischen Organisation, die von der Welt anerkannt wird. Wenn Öcalan einfach nur durch eine andere Person ersetzt wird, ändert sich überhaupt nichts. Ich glaube das auch nicht.

Sondern? Wie geht es Ihrer Meinung nach weiter?

Ich glaube, daß zunehmend demokratische Formen entstehen werden. Es muß zu einer Organisation kommen, wo innerparteiliche Demokratie herrscht, wo universale Normen anerkannt sind. Den Kämpfen im Nordirak muß ein Ende bereitet werden. Es muß ein Parlament geschaffen werden, das von der Weltöffentlichkeit als Repräsentant der Kurden anerkannt wird. Alle kurdischen Organisationen müssen daran beteiligt werden. Alle Organisationen müssen demokratisiert werden. Wenn das gemacht wird, macht anderes auch Sinn. Ohne dies kann noch soviel bewaffneter Kampf betrieben werden, noch so viele Menschen können getötet werden – das Ende ist das Ende, vor welchem Öcalan heute steht.

Die beteiligten Staaten – die Türkei, der Irak, der Iran und Syrien – werden wohl kaum diesen Weg ebnen. Ist nicht ein Parlament im Exil künstlich und nicht repräsentativ?

Zuerst muß klar sein, wer die Kurden in der Türkei vertritt. Zweitens muß die Türkei die Existenz der Kurden anerkennen. Solange beides nicht erfüllt ist, kann es nicht zu einer zivilen Lösung kommen.

Muß man heute, nach 15 Jahren, nicht feststellen, daß der bewaffnete Kampf gegen den Nato- Staat Türkei gescheitert ist?

Zum einen haben der Mißbrauch der PKK durch Syrien und Öcalans Politik einen negativen Einfluß gehabt. Auch das Ziel des bewaffneten Kampfes wurde fehlgeleitet. Kinder und Frauen wurden zur Zielscheibe. Es gibt wenige Völker, die soviel Blut vergossen haben und soviel Opfer zu beklagen haben wie die Kurden. Trotz alledem kam man keinen Schritt vorwärts. Aber wäre es besser gewesen, nie zu den Waffen zu greifen? Ich kenne keine nationale Befreiungsbewegung, die ohne Waffen Erfolg hatte. Man muß jedoch ganz genau darauf achten, wann und wie sie eingesetzt wurden.

Öcalan hat Sie einen Verräter genannt und auf die Todesliste gesetzt. Haben Sie nach den letzten Ereignissen weniger Todesangst?

Nach der Folter im Gefängnis von Diyarbakir habe ich keine Todesangst mehr. Aus dem Gefängnis entlassen, habe ich gesehen, welchen Schaden Öcalan dem kurdischen Volk zufügt. Er ist ein Diktator, der Freunde ermorden ließ, bloß weil sie ein Flugblatt geschrieben hatten. Ich konnte in der PKK nicht meine Meinung vertreten und überleben. Deshalb mußte ich mich verstecken, um meine Erfahrungen dem kurdischen Volk zugänglich zu machen. Wenn morgen Öcalan auspackt, werden diejenigen, die „Es lebe unser Führer Apo“ gerufen haben, „Nieder mit dem Führer Apo“ rufen. Interview: Ömer Erzeren