Senat vernachlässigt die Migrationsforscher

■ Seit 20 Jahren besteht das renommierte Europäische Migrationszentrum. Durch die Berliner Sparpolitik ist seine Existenz jedoch gefährdet. Wissenschaftler hoffen auf engere Anbindung an FU

Wer das Hinterhaus der Schliemannstraße 23 in Prenzlauer Berg betritt, wird dort kaum eine der größten europäischen Forschungsstellen für Migration und Ethnizität vermuten. Erst die mit Computern, Büchern und Broschüren vollgestopften Räume im dritten Stock geben dem Besucher die Gewißheit, daß er wirklich im Europäischen Migrationszentrum (EMZ) gelandet ist.

Das EMZ, ein Zusammenschluß verschiedener Beratungs-, Dokumentations- und Forschungsstellen, arbeitet im Interesse von MigrantInnen, Flüchtlingen und ethnischen Minderheiten, wie es in der Selbstdarstellung heißt. Knotenpunkt des Zentrums ist das Berliner Institut für Vergleichende Sozialforschung (BIVS), das im vergangenen Herbst sein 20jähriges Bestehen mit einem internationalen Kongreß über „Ansätze zu einer europäischen Migrationspolitik“ feierte.

Heute ist das Organisieren solcher Kongresse für die BIVS-Mitarbeiter schon Routine. Das war bei der Gründung noch ganz anders, als eine Gruppe von AssistentInnen und DoktorandInnen der FU für das Symposium „Drei Welten oder eine Welt“ sämtliche wissenschaftlichen Koryphäen der damaligen Entwicklungspolitik von Otto Kreye über Immanuel Wallerstein bis zu Ivan Illich und Dieter Senghaas nach Berlin holten. „Das Treffen hat Wissenschaftsgeschichte geschrieben“, erinnert sich Jochen Plaschke vom BIVS noch heute gerne.

Mit seiner Orientierung am Forschungsstand von Großbritannien und den USA leistete das Institut damals Pionierarbeit in der bundesdeutschen Forschungslandschaft. Noch bis in die siebziger Jahre hatte sich in Wissenschaftskreisen das aus der Nazizeit stammende Volksgruppendenken gehalten, das MigrantInnen nur als Angehörige bestimmter Völker wahrnahm. Doch nicht nur konservative LehrstuhlinhaberInnen waren auf das Institut damals nicht gut zu sprechen. Als BIVS-Mitarbeiter Mitte der achtziger Jahre über Menschenrechtsverletzungen an den Miskitos, einer indigenen Ethnie in Nicaragua, berichteten, liefen Solidaritätsinitiativen dagegen Sturm. Denn zu dieser Zeit regierten die linken Sandinistas in Manugua, und diese Kritik paßte nicht in das Bild, das sich viele Solidaritätsbewegte machten. Für Plaschke ein Beweis, daß das Volksgruppendenken auch bei Linken Spuren hinterlassen hat.

Die Etablierung einer bundesdeutschen Forschung über Ethnizität war nicht die letzte Pionierarbeit des BIVS. 1986 erfolgte nach einer Neugründung unter dem Dach der Freien Universität eine Umorientierung hin zur Migrationsforschung.

Längst ist das Zentrum eingebettet in internationale Wissenschaftsstrukturen, hat in den vergangenen zehn Jahren ein Flüchtlings-Dokumentations-Netzwerk aufgebaut und sich mit der Edition Parobolis einen eigenen Verlag zugelegt.

Die fünf Mitarbeiter und viele PraktikantInnen digitalisieren zur Zeit die immensen Materialien des größten europäischen Dokumentationszentrums: mehr als 60.000 Titel zum Forschungsthema Migration, Flucht und Flüchtlingshilfe. Das „Archiv: Migration“, ein umfassender Presseausschnittdienst, wurde im Dezember 1997 nach elf Jahren eingestellt, weil es sich durch die Internetrecherche überlebt hat. An neuen Projekten gibt es jedoch keinen Mangel.

Trotz der Zukunftspläne ist die Existenz des EMZ und seiner Mitgliedsorganisationen aber alles andere als gesichert. Der Berliner Senat hat sich im Büro der Ausländerbeauftragten Barbara John eine regierungsnahe Forschungsstelle zugelegt und finanziell gut ausgestattet. Dem regierungsunabhängigen EMZ hingegen wurden vor eineinhalb Jahren vom Senat die finanziellen Zuschüsse gestrichen. „Seitdem leben wir von unseren Rücklagen und einigen EU-Projekten. Damit haben wir höchstens noch eine Überlebensfrist von einem Jahr“, meint Plaschke, der auf finanzielle Zuwendungen über NGO-Projekte oder eine stärkere Anbindung an die FU hofft. Doch die Skepsis bleibt: „Wir müssen immer noch befürchten, daß das Ergebnis einer 20jährigen Forschungsarbeit auf dem Müll landet“, meint Jochen Plaschke. Die neuen Projekte lassen ihm allerdings keine Zeit für Pessimismus. Peter Nowak