Die Wut im Bauch wächst

Im Tiroler Paznauntal herrscht Krisenstimmung, seit zwei Lawinen in dieser Woch mindestens 32 Tote gefordert haben. Rund 10.000 Urlauber wollen nichts wie raus  ■ Aus Ischgl Philipp Maußhardt

Es schien die Sonne, es lag Pulverschnee – und niemand hatte Lust auf Urlaub. Im Tiroler Paznauntal herrscht Krisenstimmung, seit zwei Lawinen diese Woche bislang 32 Tote gefordert haben. Rund 10.000 Urlauber wollen raus – doch nur die wenigsten bekamen die Chance dazu. Die Straßen bleiben gesperrt, und die österreichische Armee fliegt, was die Rotoren halten. Bis das ganze Tal evakuiert ist, können noch Tage vergehen.

Bei den immer noch eingeschneiten etwas 7.000 Urlaubern im lawinenbedrohten Ischgl hat die Wut im Bauch mindestens Stufe 10 auf der nach oben offenen Empörungsskala erreicht. Gestern, am Tag neun ihres Gefängnisdaseins, eskalierten die Wortgefechte im Rathaus von Ischgl dermaßen, daß eilens eingeflogene Psychologen und Polizisten die aufgebrachte Menge beruhigen mußten. Die Nachricht, daß der Ferienort an diesem Tag wieder nicht evakuiert werde, hatte selbst eher Sanftmütige zu Schimpfkanonaden hingerissen.

Schon kurz nach Sonnenaufgang hatte sich Günther Fitzner auf Umwegen zum abgeriegelten Hubschrauberlandepaltz geschlichen, in der Hoffnung, einen Platz in einer der Militärmaschinen zu bekommen. Die Nacht über hatte der selbständige Chemiker in einem Hotel verbracht, wo man aus Angst vor neuen Lawinen die Gäste auf Matratzen in der Sauna unterbrachte. Fitzners Wut ist die Wut fast aller Touristen: Warum hatte man sie nicht frühzeitig vor der Gefahr gewarnt? „Ich habe noch im Hotel angerufen und gefragt: ,Ist es riskant?‘ Man hat mir gesagt, ich solle nur kommen, es herrschten optimale Schneeverhältnisse.“

Wie Fitzner ging es vielen. Weder der Tourismusverband noch die Hoteliers in Ischgl warnten vor dem von Meteorelogen schon vorhergesagten Schnee-Einbruch. „Wie auch“, schimpft die Deutsche Rechtsanwältin Range-Ditz, „die stecken doch alle unter einer Decke: Die Lawinenschutzkommission besteht fast nur aus Hotelbesitzern.“

Die Rechtsanwältin war zusammen mit ihrem Mann Walter Ditz gestern vormittag mitten in die Krisensitzung ins Rathaus geplatzt, um ihrem Unmut Luft zu machen. Psychologen versuchten, ihn zu beruhigen. „Ich brauche keine Psychologen, aber in der Einsatzleitung wäre wohl einer nötig.“ Das Anwaltsehepaar aus Rastadt will die Gemeinde auf Schadenersatz verklagen.

Daß man den Urlaubern die Schließung der einzigen Verbindungsstraße aus dem Paznauntal in der vergangenen Woche entweder gar nicht oder mit einer Vorlaufzeit von einer halben Stunde mitgeteilt hat, halten viele für eine perfide Taktik. Fast niemandem blieb somit noch Zeit, Koffer zu packen und auszureisen. Und viele der Eingeschlossenen müssen den vollen Hotelpreis bezahlen.

In dem von einer Lawine besonders hart getroffen Ort Galtür wurde dagegen gestern mit Großhubschraubern der deutschen Bundeswehr und der US-Armee die Evakuierung fortgesetzt. Unter den Ausgeflogenen war auch Wolfgang Walter, Richter am Landgericht Ulm. Er hatte sich am Dienstag vormittag, wenige Stunden bevor die Lawine neun Häuser zerstörte, beim Bürgermeister von Galtür über die mangelhafte Informationspolitik beschwert – und wurde ausgelacht.

Es gibt aber auch einen ganz glücklichen Menschen in Ischgl. Der Däne Jens Erik Platz wurde am Mittwoch mit einem Militärhubschrauber aus einem Ferienhaus in Walzur ausgeflogen – 15 Minuten später war von dem Haus kein Stein mehr auf dem anderen. Wie neugeboren umarmte er am Abend in Ischgl seine Frau und seine drei Kinder, die von ihm durch die Sperrung der Straße getrennt worden waren. Was die dänische Familie erst hinterher erfuhr: Ihr 1978 erbautes Feriendomizil lag in der sogenannten roten Zone und war schwer lawinengefährdet. Warum dort ein Haus gebaut werden durfte, ist nicht nur ihnen schleierhaft.

In der Einsatzzentrale in Ischgl zeigt man sich dagegen gelassen – „alles im Griff“ –, intern weiß man um die prekäre Situation. Durch die gestrige starke Sonneneinstrahlung ist der meterhohe Schnee an der Oberfläche naß und schwer geworden, und die ganz großen Lawinen im Paznauntal fehlen noch. Weil aber Ischgl von allen Orten noch am sichersten liegt, begann die Armee gestern alle anderen Ortschaften mit der Evakuierung vorzuziehen. In dem ansonst ruhigen Tal knatterten ununterbrochen die Hubschrauber in ihrem Wettlauf mit der Zeit. Denn egal, ob es jetzt schön bleibt oder wieder schneit – die Lawinengefahr wächst in beiden Fällen.