Kennen Sie Ahaus?

Ahaus – Brennelementezwischenlager, Schauplatz hitziger Auseinandersetzungen zwischen Sonnenblumenhaltern und den Armen des Gesetzes. Eine ganz normale Ortschaft, die häufiger als andere von solidarischen Menschen heimgesucht wird? Was wirklich hinter dem westfälischen Zielort linksalternativer Missionen steckt, warum die Straße so breit, das Schwimmbad so neu und der Schützenplatz so explosiv ist, enthüllt  ■ Herbert Beckmann

Ich kenne Ahaus. Oder sollte ich sagen: Ich kannte es? Jedenfalls bin ich dort aufgewachsen. Ahaus, Sie wissen es, ist jenes Örtchen im westlichsten Westfalen, direkt neben der niederländischen Grenze, welches aus ganz Deutschland hochradioaktive Brennstäbe aus Atomkraftwerken zugeführt bekommt, weil die kleine Stadt ein großes Brennelementezwischenlager ihr eigen nennt. Und seitdem die Castortransporte der Stadt ihre strahlende Fracht vor die Füße kippen, damit sie dort von Seit nach Bis gelagert werde, brennt in Ahaus die Luft. Und es gibt nicht wenige, die fürchten, daß dies eines Tages nicht mehr nur im übertragenen Sinne stimmen könnte.

Verwirrt schaue ich auf den Fernsehschirm, wo soeben – es ist kein Witz! – mein ehemaliger Sozialkundelehrer auftritt, um mit wichtigem Stirnrunzeln ein Interview über die explosive Lage innerhalb und außerhalb des Ahauser Brennelementezwischenlagers zu geben. Vor Schreck und Überraschung wäre ich beinahe aufgesprungen, um auch etwas dazu zu sagen.

Aber das steht mir natürlich nicht zu, denn die Wahrheit ist, ich kenne diesen Ort, Ahaus mundi, nicht mehr. Doch ich versuche mich zu erinnern: Wie hat das eigentlich alles angefangen?

Kuhhandel

Das alles überstrahlende Ereignis meiner Ahauser Kindheit war etwas, das heute, neben verschiedenen ähnlichen Erscheinungen, auf seltsame Weise mit dem Brennelementezwischenlager verknüpft zu sein scheint: ein Freibad wurde eröffnet in dem bäuerlichen Dörfchen, in dem ich aufwuchs und das die Stadt Ahaus sich soeben unter den Nagel gerissen, sprich: eingemeindet hatte. Ich erinnere mich, als ob es gestern gewesen wäre, an diesen Tag.

Ausnahmslos alle Kinder, die ich kannte, Mädchen und Jungen aus der Schule, Nachbarkinder, Spielkameraden, zu meiner Überraschung auch viele Erwachsene, von denen ich immer annahm, sie müßten tagsüber arbeiten, standen an diesem Ferientag schon früh morgens zusammen mit mir in einer unüberschaubar langen Schlange vor dem Tor des niedrigen Eingangs zum neuen Freibad. Im Nichtschwimmerbecken traf ich die meisten später wieder, auch die Erwachsenen, die mit ihren weißen Beinen aufrecht durchs Becken stolzierten, wie Störche auf einem Spaziergang durch die überaus abwechslungsreiche westfälische Parklandschaft.

Nun aber der trojanische Pferdefuß: So ein Freibad kostet natürlich Geld, und eine kleine Kommune wie Ahaus mußte dafür, ein, wie es heißt, hochmodernes Hallenbad für radioaktive Brennstäbe als Dauerbadegäste in einer politisch zutiefst rückwärtsgewandten, ländlich-bäuerlichen Gegend übernehmen. Doch das explosive Aufeinandertreffen von Auswüchsen der Moderne und dem Beharren auf Althergebrachtem erscheint mir für meinen damaligen Heimatort Ahaus eher folgerichtig denn absonderlich.

Die Autoweihe

Natürlich war da der (in Deutschland nur selten beachtete) westfälische Radikalkatholizismus, der mich schon sein Schaf nannte, noch bevor ich mäh sagen konnte. Eine Zeitlang war ich ihm treu ergeben, glaubte, was der Pfarrer im Religionsunterricht erzählte, all die Lügen von den kleinen läßlichen und den großen Todsünden (die zum Beispiel bei einem Diebstahl im Werte von fünf Mark begannen), die einem die Seele zermarterten, besonders wenn du gerade gebeichtet und schon auf dem Weg nach Hause erneut unzüchtige Gedanken hattest. Aber du konntest ja nicht einfach umdrehen und den Schweinkram wieder beichten, zumal die nächsten sündigen Gedanken eventuell schon vor dem Beichtstuhl warteten.

Ich war zu jung und derart mit dem Kampf um eine reine Seele beschäftigt, daß ich lange nicht darauf verfiel, den ganzen Unsinn in Frage zu stellen, der mir da in Gestalt von Teufel, Hölle und Fegefeuer in den Kopf gesetzt wurde.

Zweifel bekam ich erst später, mit elf, zwölf Jahren und dies aufgrund von Ereignissen, die mich damals schwer erschütterten.

Ich erwähnte schon, daß die Straßen in Ahaus und um Ahaus herum, wie man so sagte, immer schneller, das heißt breiter und besser gemacht worden waren. Heute erscheinen sie wie gemacht, um dreißigtausend Castor-Polizisten den Einsatz vor Ort überhaupt erst zu ermöglichen.

Nicht lange nach dem Beginn der Straßenausbauten wurde eine Klassenkameradin von mir auf ihrem Fahrrad seitlich von einem Auto erfaßt, mitgeschleift und dadurch tödlich verletzt. Von einem Tag auf den anderen war sie einfach nicht mehr da, ihr Stuhl blieb für den Rest des Schuljahres leer. Gott hat sie zu sich geholt, sagte der Pfarrer in der Totenmesse, Gründe dafür hatte Gott allerdings nicht genannt. Schon kurze Zeit später gefiel es Gott, auch meinen Freund Heinrich zu sich zu holen. Heinrich war von seinem Bruder, der soeben den Führerschein gemacht hatte, auf eine Spritztour im Auto des Vaters eingeladen worden. Der Ausflug endete tödlich an einem Baum.

Unter dem Eindruck dieser Ereignisse ging ich eines Sonntags zur Kirche, wo schon vor der Messe, draußen auf dem Kirchplatz, ein Ritual stattfand, das ich nun plötzlich mit ganz neuen Augen sah: die Autoweihe. Auf einmal widerte sie mich an. Der Pfarrer stand in vollem Ornat, mit einem goldenen Topf und einem Klöppel bewaffnet, auf dem Platz und ließ eine riesige Autoschlange an sich vorbeischleichen. Bei jedem neuen Auto nahm er den Klöppel, tauchte ihn in das Weihwasser im goldenen Topf und benetzte damit das Auto. Dazu wiederholte er fortwährend einen Zauberspruch, der mir so viel zu besagen schien, daß Gott dem Auto ein langes Leben und viel Glück und Segen bescheren möge. Ich betrachtete die unüberschaubar lange Blechschlange und war sicher, daß es in ganz Ahaus kein Auto gab, das nicht gesegnet worden war. Doch wozu, wenn sie dann meine Klassenkameradin und meinen Freund zu Tode brachten? Welchen Sinn machte das geweihte Wasser der altehrwürdigen Kirche auf den neuesten Autotypen? Damals, anläßlich der Autoweihe, wurde in mir der Same des Zweifels an der Kirche gesät und trug später die reife Frucht des Austritts. Heute würde es mich interessieren zu erfahren, ob vielleicht auch das Brennelementezwischenlager in Ahaus vom örtlichen Priester geweiht wurde, als es Ende der achtziger Jahre endgültig in Betrieb gehen durfte, zu einem Zeitpunkt, da ich gottlob längst fort war. Wundern würde mich das nicht.

Schützenplatz

Und dann muß selbstverständlich auch das Schützenfest erwähnt werden. Ahauser Bauernschaften feierten alle zwei Jahre ihr eigenes Schützenfest. Auf dem Schützenplatz.

Ich will nicht versäumen, aufzudecken, was unter dem Schützenplatz liegt. Darunter? fragen Sie. Jawohl, unter dem überaus grünen Rasen des Schützenplatzes. Denn der ganze Zinnober fand ab einem bestimmten Zeitpunkt direkt über beziehungsweise neben einer ausgedienten Müllkippe statt, die ganz früher einmal ein Teich für uns Kinder zum Baden gewesen war. Ahauser waren schon immer pragmatisch denkende Menschen, und so versah man das schon bald randvoll gefüllte Müllloch mit einer dünnen Decke Erde, säte edlen Rasen darauf und erklärte das Ergebnis, die schöne, große plane Fläche, schließlich feierlich zum Festplatz.

Jedoch so ein Müll, der hat seinen eigenen Dickkopf, besonders wohl, wenn er in Westfalen gelagert wird. Eines Tages, in einem der besonders heißen Sommer der letzten Jahre, ereignete sich ein fürchterlicher Unfall, direkt neben dem heutigen Schützenplatz, alias Müllkippe, alias Schwimmteich. Eine ältere Hausfrau, so berichteten mir entsetzte, trauernde Nachbarn, war in den Keller ihres Einfamilienhauses gegangen, um dort die Waschmaschine anzustellen. Als sie es tat, gab es einen furchtbaren Knall, wie ihr Mann später sagte, der zufällig draußen auf der Straße vorm Haus stand. In der nächsten Sekunde flog sein Haus buchstäblich vor seinen Augen in die Luft. Seine Frau war sofort tot. Was war geschehen? In diesem besonders heißen Sommer fing es in dem alten Müll unter dem schönen Schützenplatz an zu gären, Gase bildeten sich, dehnten sich aus, suchten sich Wege heraus und fanden einen zu dem Unglückhaus in der Nähe. Beim Einschalten der Waschmaschine muß es dann eine Zündung gegeben haben, die das Ganze zur Explosion brachte. Nun einmal aufgeschreckt, begann man, Proben in den umliegenden Häusern zu nehmen und stellte fest, daß die Gase auch andernorts zu finden waren. Und es erscheint wie ein Menetekel auf ganz Ahaus, wenn heute die Bewohner dieses Ortsteils von Ahaus, der meine unmittelbare Heimat war, wie auf einem Pulverfaß zu sitzen scheinen. Denn das Problem erscheint keineswegs gelöst. Zwar versucht man, die Gase abzuleiten, aber schon jetzt werden Stimmen laut, daß es zu wenig sei, was die Stadt Ahaus gegen die Gefahr unternehme. Doch eine Stadt, die sich mit atomaren Brennstäben bestückt, läßt sich von ein paar frei floatenden Gasen im Erdreich nicht kirre machen.

Abgang

In den Fernsehnachrichten wird erneut das Interview mit meinem früheren Sozialkundelehrer gezeigt, ein Aktivist der ersten Stunde der Ahauser Bürgerinitiative. Und obwohl ich im Prinzip richtig finde, was er sagt, bin ich unangenehm berührt. Und zwar weniger durch die sich türmenden atomaren Brennstäbe vor den Toren der Stadt Ahaus, von denen er spricht, als vielmehr durch die durch seine Person plötzlich allzu dicht kommende Zeit auf dem Ahauser Gymnasium, die mir auf einmal wieder vor Augen steht und mir ein dumpfes Gefühl in der Magengrube bereitet.

Von Beginn an fühlte ich mich immer unwohl dort, und das mag auch an dem eigentümlichen Widerstreit zwischen Alt und Neu am Gymnasium gelegen haben, das mir gestern wie heute symptomatisch für Ahaus zu sein scheint. Das Schulgebäude selbst war eine grotesk anmutende Mischung aus alten, kalten Backsteingebäuden mit hohen Decken und Fenstern und neuen, funktionalen, mitunter containerähnlichen Gebilden.

In den Fluren hingen lackierte, vergilbende Karten von „Heimat Schlesien“, „Heimat Pommern“ und sonstigen Heimatgefilden im Würgegriff ausländischer Regime. An den Karten dieser Institution vorbei marschierten aber bereits die ersten jungen Lehrer mit achtundsechziger Rauschebärten und Haartrachten. Aber alles ein wenig gezähmt und gewissermaßen kultiviert, wenn wir darunter einmal die gefönte Innenrolle verstehen wollen.

Auf dem Ahauser Gymnasium lernte ich Griechisch und Lateinisch, die klassischen toten Sprachen eines humanistischen Gymnasiums vergangener Tage und genoß andererseits die Vorzüge eines modernen Kurssystems, das die Universität praktisch vorwegnahm. Zur Abiturfeier Ende der siebziger Jahre verfaßte ich mit einer Handvoll anderer Abiturienten eine kleine, etwas kritische, nicht ganz unwitzige, im Grunde aber harmlose Rede, die für Empörung unter anwesenden Lehrern und Eltern sorgte. Sie wurde von dem Schuldirektor dadurch gekontert, daß er als alter Lateiner anschließend darauf hinwies, daß „ab-itur“ wörtlich schließlich nichts anderes denn „abgehen“ bedeute, und dies treffe den Sachverhalt sehr viel besser als „Reifeprüfung“. Im selben Jahr bewies der örtliche Stadtrat seine sittliche und moralische Reife durch die Zustimmung zum Bau eines Brennelementezwischenlagers in Ahaus. Ich aber packte die wenigen Sachen, die ich mein eigen nennen konnte, und vollzog meinen persönlichen Abgang.

Herbert Beckmann hat Ahaus nachhaltig den Rücken gekehrt und lebt heute in Berlin