Die reinste Operette

■ Magischer Realismus weicht dekorativen Posen: Andrea Breth verabschiedete sich mit Goethes "Stella" von der Berliner Schaubühne

Ein blaugestrichenes Holztor, durch das überirdisches Licht in den Hof flutet. Ein Kind, das rätselhafte Sätze murmelt. Gefühle, die von ganz woanders herkommen und sich dann plötzlich und unpassend äußern. Und die ganze Zeit über ist so ein metallisches Surren im Raum. Wo das Theater der Andrea Breth zu Hause ist, ist es groß und schön. Ein Theater der Möglichkeit. Des magischen Wartens, eines ständigen Davor. Wer kommt, ist nie da, wer geht, ist nie weg. Wie in Zeitlupe bewegen sich die Figuren am Rande der Bühne, und auch die im Zentrum sitzen oft einfach nur so da.

„Stella“ von Goethe. Mit Jutta Lampe als Cäcilie, Corinna Kirchhoff als Stella und Michael König als Fernando inszenierte Andrea Breth ihre letzte Arbeit an der Schaubühne. Der Künstler Arwed D. Gorella entwarf die Bühne. Noch einmal das große Format, magischer Realismus der Seele. Mit Goethe allerdings funktioniert das nur zum Drittel. Der von Breth aquarellierten Ahnung des Konflikts folgt der Konflikt selbst auf dem Fuße, und schlimmer noch: seine Lösung. „Stella“, in der frühen Fassung ein „Schauspiel für Liebende“, in der späteren ein Trauerspiel. Breth läßt die frühe spielen – auch das noch: Lebensfreude kippt bei ihr, wo sie nur auftaucht, doch stets in die Hysterie!

Lucie soll die Gesellschafterin der gnädigen Frau Stella werden. Lucies Mutter Cäcilie begleitet sie dorthin und findet in Stella eine Seelenfreundin. Beide wurden von einem Mann verlassen, den sie innig liebten, und leiden seither. Cäcilie seit vielleicht dreizehn Jahren, Stella seit drei. Ein Bildnis, das Stella von ihrem Liebsten zeigt, offenbart, daß beide vom gleichen Mann sprechen, der, schwupps!, auch schon in der Türe steht.

Michael König trägt das Haar mit einem Band aus dem Gesicht wie ein Schauspieler beim Schminken – oder Abschminken. Diese Offenheit hat Breths Entwurf am Anfang. König zeigt den Schwächling, die Leerstelle im Gefühlsdrama, der aber stark wird dadurch, daß er um sich weiß. Im Augenblick jedoch, da er Stella trifft und dasteht wie sie, mit nur einem Arm in der Jacke, dem rechten, so die linke Brust quasi nackt und Herzweh offenbarend, da weiß man, daß der Kern dieser Inszenierung das Kunstgewerbe ist.

Wie Corinna Kirchhoff bald greint und klagt und sich das Haar zerrauft: die reinste Operette. Wie Jutta Lampe immerhin beim Schauspiel bleibt, aber so buchhalterisch ihre Schmerzenstöne verwaltet! Und König schließlich – ein Waschlappen, und zwar einer, der Feuchtigkeit abweist. Die unabweisbare Realität des Zusammentreffens verschiedener Wahrheiten und Welten an diesem sogenannten dramatischen Höhepunkt, zwingt das Möglichkeitstheater der Andrea Breth in die Knie. Es verliert jede Contenance und endet im dekorativen Ausleuchten der jeweiligen Posen. Als Fernando beschlossen hat, Stella wegen Frau und Tochter zu verlassen, sagt diese: „Du erschreckst mich Fernando! Du siehst wild.“ Worauf in der Schaubühne der halbe Saal zu kichern begann, denn beim besten Willen: daß hier einer wild wäre, war nicht zu sehen.

Sieben Jahre war Andrea Breth künstlerische Leiterin der Schaubühne. Sie trat in dieser kulturpolitisch einschneidenden und podiumsdiskussionenreichen Zeit öffentlich nicht in Erscheinung. Ihre Arbeit war ihr das Wichtigste, doch viel gab es nicht zu sehen. Oder doch nach einem mit „Letzten Sommer in Tschulimsk“ und „Hedda Gabler“ furiosen Anfang zunehmend weniger. Immerhin inszenierte Andrea Breth auch nirgendwo sonst. Doch auch kein anderer Regisseur faßte Fuß am Lehniner Platz – die ästhetische und gesellschaftliche Neuordnung Berlins nach der Wende hat die Schaubühne, das Avantgardetheater des alten Westens vollkommen verschlafen.

Daß sein Publikum jetzt eine tragische Szene verkichert, ist der gerechte Lohn. Draußen in der Welt beginnen Leute, die ihren Lebensstandard halten wollen, sich einen zweiten Job zu suchen, und drinnen in der Schaubühne fächeln sich – besser wär's, daß nichts geschähe – zwei unselig liebende Damen Hülfe zu und küssen einem Fatzke die Füße.

Apropos Hülfe. Mit Thomas Ostermeier hat Schaubühnenchef Jürgen Schitthelm einen Breth- Nachfolger bestellt, der sich wie sie in erster Linie als Handwerker versteht und dem „Text dienen“ will. Er aber verordnet sich durch zeitgenössische Texte Gegenwart und arbeitet außerdem im Team: mit der Choreographin Sasha Waltz und Jochen Sandig, der schon aus ganz anders verwüsteten Plätzen in Berlin (dem Tacheles und den Sophiensälen) attraktive Spielstätten gemacht hat.

Ab Herbst könnte also auch die Schaubühne wieder ein Theater werden. Weil dann dort Leute arbeiten, die nicht hinter Glas zu Hause sind. Und zu denen man ruhig auch einmal „Buh“ sagen darf. Denn das Schlimmste an der „Stella“-Premiere war vielleicht der Applaus, als Andrea Breth auf die Bühne kam, zum letzten Mal. Dieses kurze, mitleidige Klatschen am Ende, das bedeutet: Natürlich haben wir eine Meinung. Aber wir wären nie so taktlos, sie zu sagen. Petra Kohse