Verrückt werden zwischen drei und vier

Als Richter und Sachverständige den Punk Peter Kirsch in die Psychiatrie schickten, ging alles ziemlich schnell. Nun wissen weder er noch sein Chefarzt, was er dort soll. Heute fragt ein Gericht erneut, ob der Mann weggeschlossen gehört  ■ Von Georg Löwisch

Magdeburg vor eineinhalb Jahren, ein warmer Vormittag im September. An einer Straßenbahnhaltestelle in der Innenstadt stehen eine Frau, ein Punk und sein Hund. Wir sind müde, wir haben nichts gegessen, wie kannst du einfach wegschauen? denkt sich der Punk und rastet aus: „Ich bin Bulle, gib' mir gefälligst was, sonst knallt's.“ Die Frau fährt zusammen. Der Hund schlägt an. Sie fischt einen Zwanziger aus der Tasche. „Dankeschön“, sagt der Punk. Wenig später wird er festgenommen. Er gesteht. Die Polizei nennt es räuberische Erpressung. Wegen Fluchtgefahr kommt er in Untersuchungshaft. Hier randaliert er. Ein Psychiater schreibt ein Gutachten: Der Punk ist geistesgestört. Ein Gericht stimmt zu: Unterbringung in einer Psychiatrie.

Berlin-Pankow vor einigen Tagen, Maßregelvollzug einer psychiatrischen Klinik. Kein Gefängnis mit Mauern und schweren Gittertüren. Aber es gibt Dinge, die einem ein Gefühl der Schwäche geben: die Kameras etwa und die Vorschrift, daß Besucher nur in die Zimmer sehen, aber nicht dort, sondern nur am Tisch auf dem Flur empfangen werden dürfen.

Ein Besuch bei Peter Kirsch, 34. Kaktus nannten ihn die Punks, die ihn kannten. Nach dem Mauerfall war er nach Berlin gekommen, lebte in besetzten Häusern, in einem Bauwagen und schließlich mit seinem Hund Sojus in einer Mietwohnung am Prenzlauer Berg. Berlin war die Heimat von Kaktus geworden — nach einer Zeit in Kinderheimen und einer Jugend, in der er die Realschule in Köln und eine Elektrikerlehre im niedersächsischen Peine abgebrochen hatte. Der größte Bruch in seinem Leben geschah freilich vor eineinhalb Jahren, in Magdeburg, an dieser Straßenbahnhaltestelle. Dieser Bruch hat bewirkt, daß Kaktus nun im Maßregelvollzug Berlin-Pankow lebt, in der geschlossenen Psychiatrie. Vielleicht wäre er lieber in einem richtigen Gefängnis. Denn: „Ich will nicht Patient genannt werden, sondern Gefangener. Ich war niemals krank, und ich bin nicht krank.“

Nun ist es nicht außergewöhnlich, wenn Menschen in psychiatrischer Behandlung von Krankheit nichts wissen wollen. Viele von ihnen rufen bei Zeitungsredaktionen und Politikern an, erzählen skurrile Dinge und beteuern, sie seien nicht krank. Es ist sogar ein Merkmal der Psychose, einer der häufigsten psychiatrischen Erkrankungen, daß oft die Einsicht in die Krankhaftigkeit des eigenen Zustandes fehlt. Bei Peter Kirsch nun liegt der Fall etwas anders. Daß er gesund ist, glaubt nicht nur er selbst, sondern auch der Chefarzt der Pankower Psychiatrie, Dr. Karl Kreutzberg. In einer Stellungnahme hat Kreutzberg festgehalten: „Bei der Aufnahme konnten wir keine psychiatrische Diagnose von Krankheitswert feststellen.“ Weitschweifige und umständliche Gedanken, das vielleicht. Aber keine paranoiden Ideen, keine Halluzinationen, kein Erleben einer Fremdbeeinflussung im Sinne einer psychotischen Ich-Störung. Deshalb auch hat Kreutzberg von einer Therapie abgesehen.

Wie konnte es dann geschehen, daß Peter Kirsch in die Psychiatrie kam? Dr. Peter Danos weiß es. Der Oberarzt der Magdeburger Uniklinik hat im Oktober 1997 das Gutachten für das Landgericht Magdeburg geschrieben. Dort war Peter Kirsch wegen räuberischer Erpressung an einer Frau angeklagt. „Paranoid-halluzinatorische Psychose aus dem schizophrenen Formenkreis“, lautete Danos' Diagnose. Nach eineinhalb Jahren beharrt er noch immer darauf: „Ich stehe klar zu dem Gutachten.“

Danos erinnert sich genau an die Untersuchung von Peter Kirsch, dieser „aggressiven Bombe“, wie er sich ausdrückt. Kirsch jetzt aus der Psychiatrie zu entlassen, sei zu riskant. „Ich habe erhebliche Bedenken, daß er unter unstrukturierten Verhältnissen wieder gewalttätig wird.“

Ist Peter Kirsch krank? Gehört er weggeschlossen?

Kaktus hat seine Geschichte oft erzählt. Wenn man den ganzen Tag nichts tun kann außer schlafen, Radio hören und lesen, sammeln sich Kraft und Wut an. Er berichtet, wie er in Magdeburg gelandet ist, damals im September 1997. Er und Sojus, sein Hund, waren auf dem Weg nach Köln, sie wollten weg von den Leuten in Berlin, mit denen es immer öfter Streit gab. Oft hatte Kaktus einstecken müssen, den linken Fuß hatte er sich gerade angebrochen. Nun saßen sie im Zug nach Köln. Ein Billet für Sojus zu kaufen, dafür hatte das Geld nicht gereicht. In Magdeburg müssen sie aussteigen. Hier passiert es, daß Kaktus beim Schnorren durchdreht und diese Frau an der Haltestelle angeht.

Im Magdeburger Gefängnis ist es schrecklich. Aber vor allem fehlt Peter Kirsch Sojus, den die Behörden ins Tierheim gebracht haben. Kaktus ist leicht reizbar. Einmal laufen im Radio nur Schnulzen, da schimpft er vor sich hin. Im Gerichtsgutachten wird das später nachzulesen sein. Als Peter Kirsch Telefongespräche und eine Stunde im Freien verweigert werden, tritt er gegen einen Stuhl und demoliert die Kloschüssel. Da, so sagt er, wird er an Händen und Füßen gefesselt und in Absonderhaft, in eine gekachelte Zelle, gesteckt, in der es nach Urin stinkt.

„Wollen Sie nicht in ein Krankenhaus gehen?“ wird Kaktus von seinem Pflichtverteidiger gefragt. Kaktus glaubt, sein Anwalt meine seinen kürzlich angebrochenen Fuß. Aber der Verteidiger denkt an eine Psychiatrie und regt bei Gericht eine psychiatrische Begutachtung an. Kirsch sei hypernervös, habe Verfolgungsvorstellungen und teils Erinnerungslücken, stellt sein Verteidiger fest und schließt mit den Worten ab: „Mein Mandant erklärt sich mit einer Begutachtung einverstanden.“

Am 21. Oktober 1997 wird Peter Kirsch aus der Untersuchungshaft zu einem Gespräch mit dem Psychiater Peter Danos von der Magdeburger Uniklinik und dessen Assistenzarzt gebracht. Er weigert sich so lange mit beiden zu sprechen, bis ihm versprochen wird, man werde sich um seinen Hund kümmern. Tags darauf schreibt Dr. Danos in seinem Gutachten: Peter Kirsch habe von falschen Freunden in Berlin berichtet, die ihn töten wollten; sein Verhalten bei der Untersuchung sei gespannt gewesen; sein „Gangbild war eckig, gestelzt“; immer wieder habe „der Proband“ in seinen Ausführungen gestockt, auch mitten im Gedankengang. Ein „fast vollständig fehlendes Krankheitsgefühl und fehlende Krankheitseinsicht“ werden Kirsch bescheinigt. Der Oberarzt zitiert auch aus einem Vermerk eines Gefängnispsychologen. „Im Gespräch verhalte sich der Gefangene sehr lebhaft und sprunghaft, lief im Raum umher, stellte in szenischen Handlungen vergangene Episoden dar.“ Der Gefangene habe erklärt, er habe gelegentlich Gewalt- und Mordphantasien, vor allem dann, wenn Stationsbeamte ihn angucken würden. Durch deren Pupillen würden sie ihm „negative Energien“ in den Hinterkopf senden.

Berlin-Pankow, Maßregelvollzug. Peter Kirsch erinnert sich genau an die Situation im Magdeburger Gefängnis, an den Besuch des Anstaltspsychologen. Er sei gefesselt gewesen, er habe „wohl auch zu ihm gesagt: ,Ihr Folterschweine und so was‘“. Er habe gefragt, wie lange das Ganze noch dauern werde. „Noch eine ganze Weile“, habe der Psychologe geantwortet.

In diesem Moment steht Peter Kirsch auf, reißt die Augen auf und glotzt. Man könnte sagen: Er stellt die Episode mit dem Anstaltspsychologen in szenischer Handlung dar.

Nach der Untersuchung wird Peter Kirsch ins psychiatrische Krankenhaus im anhaltinischen Uchtspringe eingeliefert. Ende November 1997 erklärt ihn das Landgericht Magdeburg „infolge seiner Erkrankung“ für schuldunfähig. Der Richter spricht ihn frei, ordnet aber die Unterbringung in einer Psychiatrie an. Peter Kirsch beauftragt seinen Verteidiger, Widerspruch einzulegen. Nun muß der Bundesgerichtshof entscheiden. Erstaunlicherweise hat die Generalbundesanwaltschaft Einwände: Weder habe das Landgericht festgestellt, daß Peter Kirsch die Frau an der Haltestelle verletzen wollte, noch habe der Sachverständige eine ständige Bedrohung diagnostiziert. „Dies alles hätte im Rahmen der Prognose beim Angeklagten näherer Erörterung bedurft“, verlangt der Bundesanwalt. Doch der Bundesgerichtshof folgt seinem Antrag nicht.

Zu diesem Zeitpunkt ist der Bundesanwalt der einzige, dem die Dinge zu schnell gegangen sind. Hätte Peter Kirsch ein Netz aus Freunden, Verwandten oder Kollegen gehabt, die schon viel früher ähnliches eingewandt hätten – vielleicht wäre er nie in die Psychiatrie gekommen. Erst Wochen später gibt es einen, der im Fall Peter Kirsch Druck macht.

Rainer Heller ist Facharzt für innere Medizin in Köln. Ein Bekannter von Peter Kirsch hatte ihm berichtet, daß Kaktus Mist gebaut hat. Rainer Heller kannte Peter Kirsch von früher, von einer Jugendfahrt in die Bretagne. Heller war Betreuer, Kirsch war Teilnehmer.

Als Rainer Heller bei Kaktus in der Psychiatrie in Uchtspringe anruft, hört er „einen Hilfeschrei“ und einen „Wust an Informationen“. Er fragt sich, „ob ein Geisteskranker so berichten kann, in solch einer logischen Kette von Ereignissen“. Er besorgt sich die Urteile und das Gutachten. Dann sagt er: „Peter ist der gleiche Mensch wie damals. Seine Reaktionen sind nachvollziehbar bei einem, der völlig mittellos und lädiert irgendwo landet.“

Rainer Heller verfaßt eine schriftliche Stellungnahme, in der er Fehler im Gutachten nachzuweisen versucht. Ein Fehler sei gewesen, daß Dr. Danos eine körperliche Untersuchung versäumte, die Fußverletzung übersah. „Gestelzter Gang – da kann ich nur lachen“, sagt Heller und erreicht, daß Peter Kirsch von Uchtspringe nach Berlin-Pankow verlegt wird. Rechtlich war das möglich. Kirsch hatte seinen letzten Wohnsitz in Berlin. Hier wird auch eine neue Verteidigerin engagiert.

Die Anwältin Helga Wullweber kann lange in einem Aktenordner blättern, an ihrer Zigarettenspitze ziehen und den Kopf schütteln. „Daß jemand zwischen drei und vier Uhr verrückt wird, so ist es ja nicht“. Wullweber hat keine Sorge, daß sie jemanden aus der Psychiatrie holt, der am Ende doch ein gefährlicher Kranker ist. In einem Antrag an das Landgericht Berlin, vor dem der Fall heute erneut zur Verhandlung steht, kritisiert sie das Magdeburger Gutachten und verlangt Peter Kirschs Entlassung aus der Psychiatrie. Zwar räumt sie ein, daß die Diagnose, eine Kette von Beobachtungen, durchaus Anzeichen einer Krankheit sein können. Einzeln genommen aber sind sie einfach zu erklären: Die Verfolgungsangst kann daran gelegen haben, daß Peter Kirsch in Berlin verprügelt wurde. Daß er mit dem Radio geschimpft hat, kann man auch so sehen, daß er eben vor sich hin geschimpft hat, weil die Musik nicht nach seinem Geschmack war. Und die szenischen Handlungen können damit zu tun haben, daß er sich gestenreich ausdrückt.

Zwischen den Psychiatern Kreutzberg aus Berlin und Danos aus Magdeburg gibt es nun eine Meinungsverschiedenheit darüber, wer was beurteilen kann. Kreutzberg hält fest, eine psychotische Symptomatik läßt sich auch für die Vergangenheit nicht eruieren. „Auch das Delikt scheint uns in keinerlei psychotischen Zusammenhängen zu stehen“. Danos entgegnet: „Den Fall rückblickend zu beurteilen, ist sehr, sehr problematisch“. Allerdings kann sich der Magdeburger Psychologe nur auf eine einzige Untersuchung vor anderthalb Jahren stützen. „Die“, sagt Peter Kirsch, „hat nur 20 Minuten gedauert“. Danos meint: „Mindestens eine Stunde.“

20 Minuten. Oder auch 60 Minuten. Verrückt die Vorstellung, in so kurzer Zeit entscheiden zu wollen, ob ein Mensch geisteskrank ist. Das Wort Entscheidung möchte Peter Danos nicht gebraucht wissen. Er sagt „Befund“, denn entschieden hätten die Magdeburger Richter. Die wiederum haben im Urteil geschrieben, sich dem Sachverständigen „in vollem Umfang angeschlossen“ zu haben.

Ein Arzt aus der psychiatrischen Klinik Uchtspringe erklärt heute, für ihn sei der Fall vom Tisch. Und der frühere Pflichtverteidiger sagt lapidar: „Ich bin kein Psychiater.“

Von heute an wird sich das Berliner Landgericht mit dem Fall Peter Kirsch beschäftigen. Wenn sich der Richter nicht zu helfen weiß, wird er womöglich wieder ein Gutachten in Auftrag geben.