Wider das Diktat der Ökonomie

■ Der russische Pianist Anatol Ugorski turnte den Mozart agil in der Glocke

AJene kleine Luke, die noch den kuriosesten, mediokresten, lächerlichsten Gestalten den Zugang zur Öffentlichkeit verschafft, bleibt oft dem großen, wahren Genie verschlossen. Sei's, daß es sie nicht findet, sei's, daß es nicht hindurchpaßt. So weiß die Welt nichts von seiner Existenz – und es selbst oft nichts von seinem Talent. Dieses erklärte uns Robert Schneiders Bestseller „Schlafes Bruder“. Er erzählt vom größten Musiker aller Zeiten, dem ein hinterlistiges Schicksal nicht mehr gönnte als ein bißchen nächtliches Präludieren an einer verschnarchten Dorforgel. Beinahe hätte Anatol Ugorski das Schicksal jenes Elias geteilt, wenn frau – die Schriftstellerin Irene Dische – den jüdischen Exilrussen nicht 1990 aus einem Ostberliner Ausländerlager hervorgezerrt und der Deutschen Grammophon quasi auf dem Silbertablett präsentiert hätte. Eine bekannte Geschichte: Für ihre literarische Paraphrase über Beethovens „Diabelli-Variationen“ brauchte sie einen Pianisten für die Begleit-CD zum Buch.

Schon vorletztes Jahr war Ugorski an der Seite des Württembergischen Kammerorchesters in Bremen. Damals noch als Ersatz für die – wieder mal – unpäßliche Martha Agerich. Ugorski-Rezensionen aus früheren Jahren erzählen von einem Pianisten, der Beethoven in celibidachieskem Schneckentempo spielt und Skrabin in schnörkelverliebter Maniriertheit. Nichts davon bei den beiden Mozartklavierkonzerten in der Glocke. Ugorski spielt perlend. Nun ist das Wort „perlend“ für viele die Inkarnation glibbrigen Feuilletongeschwafels. Es will hier aber lediglich veranschaulichen, daß Ugorskis Sechzehntelketten durch winzige Atemknötchen zwischen den einzelnen Tonperlen luftig und locker gewirkt sind. Eine Folge hämmerchenartigen Fingereinsatzes.

Zur Bachzeit sollen Klavierschüler zu Ruhe und Haltungsdisziplin genötigt worden sein durch Münzen auf dem Handrücken. Für Ugorski wäre das eine Katastrophe gewesen. Bewegungsökonomie ist sein Gesetz nicht. Leise Töne entstehen bei ihm nicht durch dezente Fingerspitzenarbeit. Vielmehr pflanzt er sie mit aufwendigem Schwung des elastischen Handgelenks in die Tasten. So wirken noch die magischsten Pianissimostellen unverhuscht und stabil. Auch so ein Beispiel (wie Gould und der steckenfingrige Horowitz) für die unnormierbare Multikulturalität der Pianistenhände.

Aber auch bei Ugorskis Laufstil würde jeder Klavierlehrer mahnen: Bleib gefälligst mit den Fingern näher an den Tasten. Athletisch und unsentimental ist so der Zug von Ugorskis Spannungsbögen. Verträumt den Tönen hinterherlauschen tut er erst in zwei Mendelsohnzugaben. Nicht genug danken kann man der Reihe „Meisterkonzerte“, daß sie – ganz ohne Musikfestmillionen – solche Stars einladen und die Möglichkeit bieten, den zum musikalischen Erlebnis dazugehörigen körperlichen Habitus zu erleben. Sowohl beim Beklatschen des Orchesters als auch beim Händedruck für den Konzertmeister spreizt dieses Prankentier weit seine Finger.

Mit seiner antielegischen Spielweise paßt Ugorski glänzend zu Jörg Faerbers Württembergischen Kammerorchester. „Gehetzt, aufgesetzt, gedonnert“ nannte Ute Schalz-Laurenze einst dessen zackige Spielweise. Frisch und swingend könnte man aber ebensogut dazu sagen. Läufe im Kontrabaß werden zum körperaktiven Leistungssport. Auftakte explodieren wie Tretminen. Und wenn die gute Laune mit der Cellistin durchgeht, drückt sie den Bogen bis zum Holz auf die Saiten. Klack, klack, klack. Selbst Triviales wie der Schlußsatz von Haydns Sinfonie Nr. 89 hat da noch Feuer. Die Quote gutgelaunter, engagierter Gesichter ist bei diesem Ensemble wohl nicht umsonst überproportional hoch. bk