Mehrheitsfähige Wohnzimmermaler

Seid umschlungen – von Millionen! Während in Westdeutschland zeitgenössische Kunst strikt am Markt und an der überseeischen Avantgarde orientiert war, hatten nach einer Studie des Soziologen Bernd Lindner in der DDR Bürger und Staat denselben Geschmack  ■ Von André Meier

Im Sommer 1989 befragte Emnid die Deutschen (West) nach ihren Lieblingsbildern. Auf den ersten Platz kam Leonardo da Vincis „Mona Lisa“, dahinter saß Albrecht Dürers „Feldhase“, dicht gefolgt von Carl Spitzwegs „Armer Poet“. Für die weitere Arbeit in den bundesdeutschen Ateliers blieb diese Umfrage ohne Folgen. Volkes Geschmack und Künstlers Wollen liefen ungerührt auf getrennten Wegen weiter und in so verschiedene Richtungen, daß die Gefahr, irgendwann irgendwo übereinander zu stolpern, bis auf weiteres gebannt scheint.

Manche nennen das Freiheit. Andere sehen oder besser: sahen in diesem vermeintlich autarken künstlerischen Herumwuseln im Dienste einer kaufkräftigen und um soziale Abgrenzung bemühten Bildungselite nur ein probates Mittel, um „die Gegensätze in der kapitalistischen Gesellschaft zu verkleistern“ (Jörg Immendorff). Doch während der westdeutsche Exmaoist und Maler Immendorff Anfang der siebziger Jahre seine Kollegen noch vergeblich in comicartigen Agitationsschinken aufforderte, „Grundlagen für eine Kunst im Dienste des Volkes“ zu schaffen, schien diese Mesalliance im Osten Deutschlands bereits bestens zu funktionieren.

Die Massen stürmten die Museen. Sahen die VI. DDR-Kunstausstellung 1967 noch 250.000 Besucher, waren es vier Jahre später bei der VII. bereits 655.000. Zum Vergleich: Erst die documentaIX erreichte 1992 ähnlich hohe Besucherzahlen, nur daß der Anteil der sie aufsuchenden Arbeiter gerade mal zwei Prozent ausmachte.

In schöner Regelmäßigkeit wird seit zehn Jahren über den Wert der DDR-Kunst gestritten. Dabei geht es weniger um die Frage einer wie auch immer definierten künstlerischen Qualität als vielmehr um das Verhältnis, das dieser oder jener Künstler zu dem Staat hatte, in dem er arbeiten wollte oder mußte. Ein Diskurs, der stillschweigend voraussetzt, daß Ideologieverwalter und Kunstproduzenten über vier Jahrzehnte im leeren Raum miteinander rangen – hier verwerflich eng umschlungen, dort sauber um Distanz bemüht.

Doch gab es neben Künstler und Partei auch noch ein Publikum, das – ganz im Sinne des jungen Immendorffs – eine Dienstleistung von „seinen“ Künstlern erwartete und dabei durchaus selbstbewußt eigene Ansprüche formulierte. Daß es dabei weitaus öfter nörgelnd an der Seite der Machthaber stand als im Lager der mal mehr, mal weniger stark kujonierten Kunstpoduzenten, wird heute auch nur zu gern vergessen.

Der Soziologe Bernd Lindner hat nun erstmals in einer umfassenden Arbeit die Geschichte der Kunstrezeption im Osten Deutschlands beleuchtet. Dabei stützte sich der Wissenschaftler zum großen Teil auf eigene Studien, die während seiner langjährigen Tätigkeit im Leipziger Zentralinstitut für Jugendforschung entstanden. Insgesamt flossen in Lindners Arbeit Aussagen von 55.000 Probanden ein, die im Zeitraum von 1946 bis 1995 in und außerhalb von Museen und Ausstellungshallen befragt wurden. Genügend Material also, um laut Lindner „ein Gesamtbild der Entwicklung des Kunstpublikums im Osten Deutschlands – seiner sozialdemographischen wie inneren Struktur, seines Rezeptionsverhaltens und seiner Rezeptionsfähigkeit – zu geben“.

Mit ebendieser Rezeptionsfähigkeit sah es nach dem Krieg in Ost und West gleichermaßen trübe aus. Zwölf Jahre nationalsozialistische Kulturpolitik hatten Spuren hinterlassen: Mehr als drei Millionen Deutsche waren durch die Propagandaausstellung „Entartete Kunst“ gezogen, unzählige hatten darüber hinaus jene Schmähbegriffe verinnerlicht, mit denen die NS-Führung gegen die Moderne stritt. Gleichzeitig war es den Nationalsozialisten mit ihrem Insistieren auf dem „gesunden Volksempfinden“ gelungen, beim Publikum so gut wie jede Bereitschaft zur Auseinandersetzung mit Kunstwerken gegen Null zu fahren, die den eigenen Wahrnehmungsmustern nicht entsprachen.

Das erklärt vielleicht, warum die erste, noch gesamtdeutsch bestückte Dresdner Kunstausstellung 1946 bei den sie besuchenden Ausländern überwiegend positive Aufnahme fand, während 58 Prozent der deutschen Studenten und 76 Prozent der dort befragten Arbeiter eindeutig Mißfallen signalisierten. Arbeiten Paul Klees und Willi Baumeisters führten die Liste der vom deutschen Publikum abgelehnten Werke an: „Wenn solche Bilder vor dem Umsturz wegen ,entarteter Kunst‘ verboten waren“, schreibt ein 24jähriger Ingenieur auf seinen Fragebogen, „so kann man nur sagen, mit Recht!“

Doch anders als im Westen, wo sich der Kunstbetrieb von dergleichen emanzipatorischen Auftritten nur kurzzeitig irritieren ließ und alsbald – von Politik und Wirtschaft massiv unterstützt – in Abgrenzung zum „unfreien“ Osten den Schulterschluß mit der überseeischen Avantgarde sucht, benutzt man in der jungen DDR die Stimme des Volkes, um seine Künstler auf Linie zu trimmen. Das war nicht einmal geheuchelt, denn dadurch, daß sich in der DDR eine Führungselite etablierte, die stolz auf ihre kleinbürgerlich-proletarischen Wurzeln pochte, wurde der Mehrheitsgeschmack ohnehin zur Staatsdoktrin. So kann es auch nicht wundern, daß ein kleines Bild, das Walter Ulbricht 1962 auf der V. Dresdner Kunstausstellung für das Staatsratsgebäude erwarb, nicht nur vom Publikum mit Abstand als persönlicher Favorit benannt wurde, sondern über Reproduktionen auch massenhaften Eingang in die Wohnzimmer der DDR-Bevölkerung fand.

Dabei zeigt Walter Womackas Paar „Am Strand“ nichts weiter als der Titel verkündet: zwei heterosexuelle Jugendliche, die – modisch leger gekleidet – eine erste zaghafte Berührung wagen, während die Ostsee im Hintergrund sanft kleine Wellen gebiert. Auch wenn das Publikum später hauptsächlich auf Bilder abhob, die als Mediensurrogat fungierten und den DDR- Alltag zunehmend kritisch reflektierten, blieb es doch in seiner Mehrheit bis zum Schluß auf formal konservative Angebote fixiert. Verständlich, daß sich dieses Publikum nach 1989 nur sehr begrenzt für den westlichen Kunstbetrieb erwärmen ließ. Auf der documenta IX lag der Besucheranteil aus den neuen Ländern bei gerade mal fünf Prozent. Lediglich jeder tausendste Kassel-Besucher, so die nüchterne Statistik weiter, war ein Arbeiter aus dem Osten.

Bernd Lindner: „Verstellter, offener Blick. Eine Rezeptionsgeschichte bildender Kunst im Osten Deutschlands 1945–1995“. Böhlau Verlag Köln/Weimar/ Wien 1998, 447 Seiten, 98 DM