„Ist der Mensch ein Thier?“

Von der Savanne in den Großstadtdschungel – Verhaltensforscher erkunden Wohlfühlräume. Der Humanbiologe Klaus Atzwanger arbeitet am Institut für Stadtethologie der Universität Wien, das „Verhaltensforschung am Menschen in der Großstadt“ betreibt. Mit dem Eibl-Eibesfeldt-Schüler sprach  ■ Stefan
Schomann

taz: Vor 125 Jahren mußte Kronprinz Rudolf von Habsburg einen Schulaufsatz über die Frage schreiben: „Ist der Mensch ein Thier?“ Heute gibt es an der Universität Wien ein „Institut für Humanbiologie“. Welchen Bescheid könnten Sie dem Erzherzog geben?

Klaus Atzwanger: Der Mensch gehört zweifellos zu den Primaten, und doch ist er ein Fall für sich. Er hat sich vor etwa fünf Millionen Jahren auf die Hinterbeine gestellt. Damit ging eine Vielzahl von Veränderungen einher, die uns im wahrsten Sinne abheben. Aber das tierische Erbe wirkt fort. Die Lebensbedingungen, die uns stammesgeschichtlich geprägt haben, bestimmen unser Verhalten weiterhin mit.

Welche Faktoren waren da prägend?

Die Umwelt und das Sozialsystem. Der Mensch entwickelte sich in den ostafrikanischen Savannen. In einer offenen, abwechslungsreichen Landschaft, mal locker, mal etwas dichter mit Bäumen bestanden. Eine Bevorzugung solch parkartiger Landschaften läßt sich auch heute noch in Bewertungsstudien nachweisen. Man spricht von Savannenpräferenz. Ein weiterer Punkt: Wir favorisieren Lagerplätze, die zugleich Ausblick und Schutz gewähren. Eine Felsterrasse zum Beispiel, von der aus wir weit sehen können, ohne unbedingt gesehen zu werden. Sie bietet Rückenschutz, aber noch genügend Fluchtmöglichkeiten bei Gefahr.

An solchen Orten fühlen wir uns unwillkürlich wohl?

Auch unsere Vorliebe für Randbiotope ist auf diese Prägung zurückzuführen. Wir halten uns gerne am Waldrand, am Seeufer, am Meeresstrand auf. Achten Sie darauf, wo die Bänke entlang der Waldwege stehen: fast immer an der Kante, mit Blick ins Offene. Oder gehen Sie in ein Restaurant: Wo setzen sich die Leute als erstes hin, welche Plätze räumt man den Damen ein? Natürlich die guten, wo sie Rückenschutz und Übersicht haben.

Endlich eine anthropologische Theorie des Katzentischs.

Die Merkmale, die in der einstigen Umwelt für eine hohe Überlebenswahrscheinlichkeit standen, lösen bis heute positive Gefühle in uns aus.

Aus strategischen Vorlieben sind also ästhetische geworden?

Was wir an Räumen und Landschaften als schön empfinden, hat immer auch mit den damaligen Überlebenschancen und dem Fortpflanzungserfolg zu tun. Auch das Vorhandensein von Wasser spielt eine große Rolle fürs Wohlbefinden – wie auch Grünpflanzen, das nennt man „Phytophilie“. Das geht so weit, daß wir in begrünten Räumen konzentrierter arbeiten.

Die urbane Umwelt wäre demnach eine Art Exil, das wir mit Andenken aus der alten Heimat zu lindern versuchen?

Gewissermaßen. 99 Prozent unserer Evolution haben wir unter ganz anderen Bedingungen zugebracht. Nicht nur die Landschaft sah völlig anders aus, auch die Gesellschaft. Bis gestern quasi lebten wir in kleinen Gruppen als Jäger und Sammler. Dort kannten die Individuen einander mehr oder weniger gut. Heute sitzen wir mit Hunderten von wildfremden Leuten in der U-Bahn.

Dennoch verstädtert der Planet rapide.

Unser Verhältnis zur Stadt ist ambivalent. Uns geht es generell darum, den städtischen Lebensraum aufzuwerten, indem wir Erkenntnisse der Evolutionsbiologie heranziehen. Wenn es uns gelingt, vermehrt Wohlfühlräume zu schaffen und damit Kontaktmöglichkeiten, läßt sich die urbane Lebensqualität erhöhen.

Wodurch zeichnen sich solche Wohlfühlräume aus?

Nehmen wir wieder die Primärressourcen wie Schutz und Ausblick, Wasser, Pflanzen. Wir haben die Verweildauer von Passanten an öffentlichen Plätzen untersucht. Wo Wasser vorhanden war, an einem Brunnen zum Beispiel, hielten die Leute sich nicht nur länger auf. Sie sprachen und lachten deutlich mehr miteinander, grüßten und berührten sich auch häufiger. Ähnlich kann man beobachten, auf welchen Bänken die Leute am liebsten sitzen – dort, wo sie geborgen sind, aber zugleich möglichst viele andere Platzbenutzer sehen können.

Der größte Killer städtischen Wohlbefindens ist wohl das Auto?

Natürlich. Dabei haben wir das Problem, daß das Auto zugleich eines der stärksten Bedürfnisse des Menschen befriedigt: seine Faulheit. Solange die uns mehr wert ist als das, was uns gleichzeitig entgeht, werden wir fahren. Und solange ich mich als Fußgänger durch unterirdische Röhren quälen muß, um dann beim Theater oder Hotel den Nebeneingang zu benutzen, weil die Rampe zur Vorfahrt der Automobile da ist, so lange wird man ebenfalls fahren. Wenn aber die schöneren Wege die Fußwege sind, wenn wir dabei Wichtiges erleben und vor dem Theater zu Fuß den großen Auftritt haben – dann überlegen wir uns die Sache.

Warum scheint die universelle Prägung gerade bei Architekten und Bauherren häufig zu versagen?

Zum einen aus ökonomischen Zwängen. Zudem wollen sich Architekten in einem Kunstwerk verwirklichen, die Investoren in einem Prestigeobjekt. Ja, wenn das Kunstwerk darin bestünde, die Verweildauer zu erhöhen...

Jede x-beliebige Ferienanlage besteht aus jenen Komponenten, die Sie beschrieben haben: das Hotel als schützender Fels, die Balkone als Nischen mit Panoramablick; der Pool als Wasserloch und Kommunikationszentrum; der Garten für die Phytophilen...

Ich würde erwarten, daß Hotelanlagen in der Publikumsgunst um so besser abschneiden, je überzeugender sie diese Bedingungen erfüllen. Auch bei den künstlichen Paradiesen dürften die am erfolgreichsten sein, die den Urbiotopen am nächsten kommen.

Es wird mehr und verzweifelter gereist denn je...

Je mehr die Urbanisierung sich zuspitzt, desto stärker wird der Drang, die biologischen Grundbedürfnisse auszuleben. Weil das aber im Alltag unmöglich ist, wird alles auf die paar Wochen Urlaub im Jahr verschoben. Ich möchte jedoch vor Kulturpessimismus warnen. Die Verstädterung ist zwar unaufhaltsam, aber es gibt auch überall engagierte Leute und Institutionen, die der Unbewohnbarkeit entgegenarbeiten. Ich bin zuversichtlich, daß wir uns weitere Wohlfühlräume schaffen werden. Der Mensch ist stärker als Beton.

Stefan Schomann lebt als freier Autor in Berlin