Mafia als neue Mitte

Von der Abschreckungsliteratur zur neuen Krimikonjunktur in Rußland  ■ Von Helmut Höge

Gleich der erste soeben auf deutsch erschienene Band der russischen Krimiautorin Alexandra Marinina, „Auf fremden Terrain“, befaßt sich mit der Mafia – in einer Kleinstadt, wo sie mit der mafiösen Kommunalverwaltung sowie mit einer Rehaklinik-Verwaltung kohabitiert bzw. kollidiert. Der Aufklärer ist eine dort kurende Moskauer Milizionärin namens „Anastasija“. Auch die Autorin war bis vor kurzem noch ein Oberstleutnant der Miliz. Ihre ersten literarischen Arbeiten veröffentlichte sie in der Hauszeitung des Innenministeriums. Inzwischen verkauften sich ihre bisher 20 Krimis über 13millionenmal. Die Bestsellerautorin lebt nunmehr von ihrem Schreiben, ebenso ihr Agent Natan Sablozkis, der zuvor – im Dienst – ihr Vorgesetzter war.

Der Berliner Argon-Verlag hätte jedoch besser nicht gleich derart mit der Wurst zur Speckseite geworfen – und mit Marininas Mafia-Fall begonnen, denn eigentlich sind ihre Täter gerade keine der hierzulande ebenso beliebten wie gefürchteten russischen „Mafia-Typen“, sondern einfache Menschen – Mörder wie du und ich quasi: WK-Zwo-Veteranen, für den Polizeidienst Untaugliche und frustrierte Ex-Generäle... Der Spiegel zählte sie gerade alle auf, und trug damit das Seinige zum Erfolg der Krimis von Marinina – nun auch in Deutschland – bei. Nötig hätten diese es nicht. Denn die Autorin, die ihrem Alter ego Anastasija erlaubt, sich nebenbei noch mit Englischübersetzungen ein Taschengeld zu verdienen, zieht auch bei ihren restlichen Romansträngen alle angloamerikanischen Register. Diese Westanpassung macht ihre Bücher hier eher überflüssig – im Gegensatz zur sonstigen russisch-sowjetischen und postsowjetischen Bullenprosa, die wahrscheinlich einmalig ist, auch und gerade in ihrer wüstesten Romantik.

Die Gerichtsmeldung als Romanstoff

In vorrevolutionären Zeiten gab es zwar das Genre nicht, aber sehr viele russische Schriftsteller, die sich aufgrund ihres gesellschaftlichen Engagements verpflichtet fühlten, über Kriminelle, ihre Taten und ihre Behandlung durch die Staatsmacht zu schreiben. So wurde oftmals aus einer kleinen Gerichtsmeldung ein dicker Roman. Bei Dostojewski beispielsweise, der dann sogar seinen sibirischen Gefängnisaufenthalt dazu nutzte, um Verbrecher zu studieren. Die wohl gründlichste Gefängnisforschung stammt von Tschechow: „Die Insel Sachalin“. Mit der Zeit wuchs sich dies zu einem eigenen (Sibirien-)Genre aus, das noch längst nicht abgeschlossen ist. In den USA gibt es bereits das Genre „Sibirien-Krimi“ und sogar „Hollywood heads for Siberia“, wie das Fachblatt Moving Pictures vermeldet. Es bleibt dort jedoch alles beim alten: „Der Russe ist immer der Böse.“

Bereits mit Beginn der modernen russischen Literatur, d.h. seit Puschkin, gibt es eine große Sympathie der Intelligenz mit den Kriminellen, denen auch das Volk zu keiner Zeit sein Mitgefühl entzog. Dadurch kam es zu ihrer ebenso fatalen wie falschen „Romantisierung“ – wie Solschenizyn meint. Mit der Revolution wurde daraus – mindestens bis in die fünfziger Jahre – eine Art Staatsdoktrin: Für die Avantgarde des Proletariats waren die Kriminellen als Subproletariat „Klassennahe“, während die (revolutionäre) Intelligenz bald zu den Klassenfeinden zählte. Die Folge war, daß sich die mit den Bolschewiki sympathisierenden Schriftsteller, wollten sie nicht verfolgt und vernichtet werden, auf die Seite des Staates und seiner Sicherheitsorgane schlugen. Gleichzeitig schafften es viele der übelsten Verbrecher, umerzogen, als KGB-Lagerwächter und sogar -Offiziere Karriere zu machen. Während Zigtausende von politischen Gefangenen in den Gefängnissen und Lagern noch hinter den debilsten Totschlägern rangierten.

Schreibende Uniform- und Geheimnisträger

Die Organe verfolgten nicht nur die Dichter und ihre Leser bis in die geheimsten Rezitationen – und schufen sich dafür einen entsprechenden (wissenschaftlichen) Apparat, sie sonnten sich und ihren revolutionären Eifer auch immer wieder gerne im Lichte großer Literatur. Außerdem fühlten sie sich auch immer wieder herausgefordert, ihren Alltag selbst schriftstellerisch zu „bewältigen“. Heraus kamen dabei schreckliche Sammelbände – mit Titeln wie „Schild und Flamme“, „Blumen und Stahl“, oder Tschekisten-Memoiren à la „Ein Leben in Gefahr“ (von Tewekeljan). Bis heute gibt es aber auch aller Ehren werte Schriftsteller, die einmal Wächter in irgendeinem Lager waren. Der leider gerade (in der amerikanischen Emigration) gestorbene Sergej Dowlatow („Die Unsren“) beispielsweise.

Seit der Entlassung der letzten politischen Häftlinge und der Reduzierung von Arbeitsplätzen besinnt man sich in Rußland wieder mehr auf den Resozialisierungsgedanken – derart, daß inzwischen ab einem bestimmten Dienstgrad jeder in einer Vollzugsanstalt Beschäftigte nebenbei noch Sozialwissenschaften bzw. Philosophie studieren soll. Mit der Folge, daß es inzwischen wohl nirgendwo so viele schreibende Uniform- und Geheimnisträger gibt wie in Rußland.

Dies ist auch Ausdruck eines anderen Verhältnisses von privat und öffentlich. So fiel einem KGB- Überläufer (Spezialist für Computercodes), den man 1994 in einer Münchner CIA-Siedlung versteckte, vor allem auf, daß sich dort die Amerikaner so benahmen, als würden sie alle normale Angestellte einer stinknormalen Firma sein, die sich abends mäßig im Hofbräuhaus oder in Schwabing amüsierten und morgens müde ins Büro schleppten. In der Sowjetunion legen die Organe dagegen nach wie vor eher Wert auf Isolation: Die Welt wimmelt von Spionen – was zusammen mit dem Verrat dann auch ein breites Genre wurde. Derzeit durchaus induktiv selbstaufklärerisch: So veröffentlichte unlängst ein anderer „Überläufer“, der Bruder des Regisseurs Nikita Michailkow, in München unter Pseudonym heiße „KGB-Insiderstories“ – auf deutsch.

Miliz-Romane und Marktwirtschaft

Zwar gab es in der Sowjetunion stets von oben durchorganisierte Massenverhaftungskampagnen – gegen Bummelei und Hooliganismus etwa –, aber die kleinen quasi Einzelfälle waren ansonsten das tägliche Brot der Miliz (der Polizei). Zu Anfang – im Bürgerkrieg – wurden allerdings aus Kriminellen immer wieder konterrevolutionäre Banden – und umgekehrt. Auch und gerade die wachsame Miliz blieb von diesem „Paradigmenwechsel“ nicht verschont. Sehr schön schildert dies der sibirische Journalist Pawel Nilin, dessen Bücher „Ohne Erbarmen“ und „Der Kriminalassistent“ in den fünfziger Jahren auf deutsch erschienen: „Sozialistischer Humanismus mit Action“, wie es in einem Literaturlexikon heißt.

Ab Mitte der zwanziger Jahre entstand aus solchen – die Probleme der revolutionären Moral behandelnden – Miliz-Romanen parallel zu der von oben wieder zugelassenen Marktwirtschaft (Neue Ökonomische Politik – NEP – genannt) für einige Zeit so etwas wie ein eigenes Krimigenre. Seine Helden waren Schieber, Spekulanten, Zuhälter bzw. die diesen neuerlichen „Augiusstall“ säubernden Fahndungsbrigaden: Abschreckungsliteratur. Den Anstoß hierzu gab anscheinend Nikolai Bucharin, der in der Prawda 1923 wiederholt einen „roten Pinkterton“ gefordert hatte. Die Philosophin Marietta Schaginjan veröffentlichte daraufhin eine Groschenheftserie „MessMend oder die Yankees in Leningrad“. Die Cover-Collagen gestaltete Alexander Rodtschenko. Fast zeitgleich wurde Schaginjans Krimi in der deutschen Roten Fahne nachgedruckt, deren Leser jedoch über die chaotisch-ironische Destruktion des beliebten US-Kolportage-Genres durch die sowjetische Autorin not amused waren. Von ähnlich phantastisch-groteskem Kaliber war dann der Kollektiv-Krimi „Die großen Brände“, an dem sich 25 Autoren (u.a. Babel, Grin, Fedin, A. Tolstoi, Soschtschenko und Kolzow) beteiligten.

Schuld und Sühne ohne Fahndungsdruck

Spätere Krimischreiber siedelten ihre Handlung immer wieder in dieser guten alten Verbrecherzeit an. Beispielsweise der Komsomol- Funktionär Nikolai Sisow in: „Was soll ich mit einer Million?“ Der Roman erschien hier 1976, er beschwört die NEP-Gestalten wie Schatten der Vergangenheit herauf. Ebenso der 1978 in der DDR – in der Reihe „Spannend erzählt“ – veröffentlichte Roman „Der Schuß“ des jüngst verstorbenen Anatoli Rybakow. Wenn es um das kontemporäre Verbrechen ging, neigte man jedoch – schon bald nach der NEP – dazu, das Problem von Schuld und Sühne wieder losgelöst von allem Fahndungsdruck zu diskutieren. In „Die Abrechnung“ von Wladimir Tendrjakow bekennen sich z.B. alle Zeugen gegenüber dem ermittelnden Milizoffizier als „schuldig“ – um anstelle des jugendlichen Mörders bestraft zu werden!

Solche gleichsam ins Philosophische abdriftende Romane trugen dazu bei, im Westen die Meinung zu verbreiten, im Osten seien echte Krimis verboten, weil man dort davon ausgehe, mit dem Kommunismus werde jedwedem Verbrechen der Boden entzogen. Solschenizyn rühmte jedoch gerade Tendrjakow – vor allem wegen seines Romans „Drei, Sieben, As“, weil der es – vielleicht als einziger russischer Schriftsteller – verstanden habe, „erstmals einen Unterweltler ohne Anhimmelung und Rührseligkeit zu zeichnen und dessen innere Widerwärtigkeit aufzudecken“.

Mit der Perestroika rächte sich aus der Sicht des Volkes das „Bündnis“ der Bolschewiki und insbesondere des KGB mit den Kriminellen. Die im Zuge der Privatisierung eingeleitete Zweite NEP schuf in den neunziger Jahren mit den Neuen Russen, dem Busineß und der Mafia die realen Bedingungen für eine neue Krimikonjunktur. Von den in dieser Zeit entstandenen „Thrillern“ wurden viele sofort zu Bestsellern. Noch immer zeugen zahlreiche Spezialzeitschriften und TV-Sendungen von dem großen Interesse der Russen an allem Kriminellen. Die neue, jetzt gerade mit der ökonomischen Krise wieder eingestellte Literaturzeitschrift Puschkin widmete ihre letzte Ausgabe diesem Thema.

Schriftsteller als „Diener des Systems“

An erster Stelle wird dort der Krimiautor Daniil Koretzky (48) erwähnt, ihm gelangen bereits sieben Bestseller. „Der schreibende Oberst“ (bei der Miliz) ist noch immer im Dienst: Seine Romanideen fallen ihm beim Marschieren auf dem Exerzierplatz ein, behauptet er. Seine Plots gelten als „dynamisch, lebensnah“ und beweisen überdies „große Materialkenntnis“. Von seinen Büchern – beginnend mit „Antikiller“ 1 und 2 – verkaufte er bisher über 2 Millionen Exemplare.

Koretzky sieht sich dennoch weniger als Schriftsteller denn als „Diener des Systems“. Den Schriftstellern wirft er vor, sie würden nicht verstehen, was derzeit wirklich vor sich geht – draußen im Land! Da er z.B. davon ausgeht, daß inzwischen die russischen Bezirksgerichte sämtlichst von der Mafia kontrolliert werden, fordert er, die Armee solle die Kriminalprozesse führen – mit maskierten Richtern. Den Vorwurf der Kritik, sein Roman über die Todesstrafe – „Vollstreckung“ – sei allzu „kafkaesk“, konterte Koretzky resolut: „Nein, so ist das Leben!“

Auch der zweite von Puschkin porträtierte prominente Krimi- Autor Sergej Alexejew (45) ist quasi vom Fach: Er war Untersuchungsführer bei der Kriminalpolizei. Nachdem man ihn wegen Alkoholismus entlassen hatte, wurde er Schriftsteller. Seinen 700-Seiten-Schmöker „Der Schatz von Walkirij“, der sofort 50.000mal verkauft wurde, bezeichnete die Kritik als „philosophisch-ethnographischen Action-Roman“. Der Autor, der angeblich große Ähnlichkeit mit seinem Protagonisten hat, schuf damit einen „Kulturmythos à la Castaneda“. Die riesige Resonanz auf diese „Romantik“ war bisher echter Literatur vorbehalten, klagte Puschkin. Es geht darin um die Zukunft Rußlands, die von einer unsterblichen neuen Komintern, die sich in Ural-Katakomben fit hält, gesichert werden soll.

Zu Alexejews Lesungen erscheinen immer wieder Fans, die sich persönlich für die Walkirij-Auserwählten halten bzw. bereits in besagtem „Untergrund“ leben. Der Autor ist inzwischen selbst von dieser Realität zweiter Ordnung derart überzeugt, daß er neulich schon auf dem Moskauer Flughafen mit Waffen und Munition im Gepäck verhaftet wurde.

Ähnlich erging es auch dem Philosophen Anatoli Koroljow (50), der angesichts der boomenden Krimiliteratur seiner Zeitschrift Snamja (Das Banner) vorschlug, auch einmal einen „Thriller“ zu schreiben. Gesagt, getan. Nur lehnte die Redaktion dann überraschend sein Manuskript – mit dem Titel „Thriller“ – ab. Koroljow suchte sich einen neuen Verlag. Er fand zwei merkwürdige, aber seriöse Geschäftsleute – mit einem Verlag, in dem bisher nur ein Buch erschienen war: über eine Makarow-Pistole! Kurz vor der öffentlichen Präsentation seines Thrillers fragten sie den Autor, ob er etwas dagegen hätte, wenn die Party in KGB-Räumen stattfände. „Nein, im Gegenteil!“ meinte Kariljow, der nun gespannt ist, ob – und wenn ja, wie – sein Krimi sich immer mehr in die russische Realität rein verlängert.

Der in Berlin lebende Schriftsteller Wladimir Kaminer meint: „Eine revolutionäre neue Ordnung zu schaffen, das ist schon immer eine genuin künstlerische Tätigkeit gewesen, und daraus erklärt sich auch die enge Verbindung zwischen Bolschewiki und Künstlern, seit Dscherschinski.“ Zu dem käme noch hinzu, daß die Miliz, generell alle „Menschen in Uniform“, in der Sowjetunion stets im „Mittelpunkt der Gesellschaft“ standen. Diese Leerstelle hätte nun die Mafia besetzt, der deswegen alle Aufmerksamkeit gelte. Dies könnte u.a. auch den Krimi- Boom erklären.