Die Nation auf der Achterbahn

■ Analyse: Das Ende des PKK-Führers Öcalan ist der Bankrott einer politischen Bewegung, die glaubte, militärisch gewinnen zu können

Nichts ist mehr, wie es vor der Inhaftierung des Führers der Arbeiterpartei Kurdistans (PKK), Abdullah Öcalan, war. In der türkischen Innenpolitik nicht, im Verhältnis zwischen der EU und der Türkei nicht, nicht im politischen Hexenkessel des Nahen Ostens. Öcalan hat auch der europäischen Linken die Sprache verschlagen. Sie will sich nicht mit einer Figur solidarisieren, die Stalin nachäfft und Dissidenten umbringen ließ. So bleibt ihr nur die Flucht in die Falschheit, daß „das kurdische Problem“ von der PKK zu trennen sei – als hätte das eine mit dem anderen nichts zu tun.

Zur Erinnerung: 1980 hatte die türkische Armee mit einem Putsch „Ruhe und Ordnung“ geschaffen. Im Westen des Landes hielt die Ruhe lange. Zumal die Militärs durch die Verfassung von 1982 auch die Entwicklung nach den Wahlen von 1983 steuerten. Im Osten dagegen begann 1984 der bewaffnete Kampf der PKK. Bis dahin nahmen die Menschen in den rückständigen, von Stammesführern und Großgrundbesitzern dominierten Regionen staatliche Unterdrückung als natürliche Gegebenheit hin. Erst die PKK und ihre Angriffe auf Kasernen und Soldaten änderten dies. Der Soziologe Ismail Besikci, der wegen seiner Studien zu insgesamt mehreren hundert Jahren Gefängnis verurteilt wurde, hat diesen Prozeß als das „Abschütteln des akzeptierten Sklavendaseins“ beschrieben.

Erst der bewaffnete Kampf der PKK stiftete über Stammesgrenzen hinweg so etwas wie eine nationale kurdische Identität, die es zuvor kaum gegeben hatte. Das Elend im Südosten des Landes machte aus der Sekte eine politische Kraft mit Massenanhang. Öcalans Konzept war dabei denkbar einfach: Der „Krieg“ – so nennt die PKK ihren Kampf – sollte ausgedehnt werden, bis der türkische Staat Autonomieverhandlungen zugesteht oder gar ein unabhängiges Kurdistan hinnimmt.

In Interviews setzte Öcalan auf die „politische Vernunft“ der türkischen Generäle. Im militärischen Patt sollten die Kriegsherren, des Kampfes überdrüssig, Frieden schließen. So ein Friedensschluß wäre die politische Anerkennung Abdullah Öcalans gewesen. Der Krieg wurde entschieden – aber anders, als Öcalan dachte: Der Nato-Staat Türkei obsiegte; die PKK ist militärisch zerschlagen. Der Preis war hoch: Um der Guerilla das Wasser abzugraben, hat die türkische Armee Tausende Dörfer zerstört. Hunderttausende flüchteten, 35.000 Menschen starben im Zuge der Auseinandersetzungen zwischen PKK und Armee.

Im andauernden Ausnahmezustand wurden Grundrechte außer Kraft gesetzt, Todesschwadronen mordeten Oppositionelle. Und die PKK ermordete Frauen und Kinder von Kurden, die mit dem türkischen Staat zusammenarbeiteten. Eine demokratische kurdische Opposition konnte sich nicht formieren, weil sie einerseits der Verfolgung des türkischen Staates ausgesetzt war und andererseits von der PKK zum legalistischen Hilfstrupp des bewaffneten Kampfes degradiert wurde.

„Sieg“ oder „Niederlage“ – so wurde der Konflikt sowohl von der türkischen als auch der kurdischen Öffentlichkeit wahrgenommen. Dabei hat in der Türkei das „kurdische Problem“ nie existiert. Für PolitikerInnen und Medien gab es nur ein Problem – Öcalan, den „Teufel“. Dieses Problem hat sich nun erledigt. Andererseits war Öcalan für die PKK die seelische und leibliche Verkörperung des kurdischen Kampfes. Kurdischer Befreiungskampf und Öcalan standen in einem Verhältnis wie Gott zu Jesus. Die Verehrung für den Halbgott Öcalan zeigt sich in abstrakten Begriffen wie dem der „nationalen Führung“. Deswegen hat der türkische Staat, mit allen Wassern der psychologischen Kriegsführung gewaschen, nun leichtes Spiel. Ein zerstörter PKK- Führer in Handschellen vor zwei türkischen Flaggen, eine „nationale Führung“, die ihre Liebe zur Türkei bekundet. Hat nicht schließlich die PKK über ein Jahrzehnt immer wieder gesagt, daß der kurdische Nationalkampf ohne Öcalan ein „Nichts“ sei? Das persönliche Ende Öcalans ist der Bankrott einer politischen Bewegung, die glaubte, militärisch gewinnen zu können.

Historische Ausgangsbedingungen haben mit zur Niederlage der PKK beigetragen. Schon im osmanischen Vielvölkerstaat haben feste ethnische Trennlinien zwischen Türken und Kurden nicht existiert. Dagegen gab es klar umrissene religiöse Gemeinschaften – griechische Orthodoxe, armenische Orthodoxe, Juden und Muslime. Mustafa Kemal Atatürk, auf den die türkische Politik bis heute fixiert ist, hat die Fundamente der Republik gelegt. Er wollte den bürgerlichen Nationalstaat. Bis heute folgenreich ist, daß die Republikgründer trotz ihres nationalstaatlichen Konzepts und ihrer säkularen Einstellung religiöse Kategorien für die Definition ihrer „Nation“ zugrunde legten. Nach dem Abkommen zum Bevölkerungsaustausch zwischen Griechenland und der Türkei mußten Christen türkischer Muttersprache die Türkei und Muslime griechischer Sprache Griechenland verlassen.

Der türkische Nationalstaat, der den Laizismus (die Trennung von Staat und Religion) zur Doktrin erhob, stülpte sodann den im Staatsterritorium verbliebenen Muslimen das Konzept der türkischen Nation über. Die Zwangsassimilierung der Kurden war Beitrag zur Stabilisierung des Nationalstaates. Die „türkische Nation“ wurde erst mit der türkischen Republik erfunden. Die blutig niedergeschlagenen kurdischen Aufstände in den 20er und 30er Jahren waren nicht Ausdruck einer rebellierenden kurdischen Nation, sondern Erhebungen einzelner Stämme.

Das Konzept einer kurdischen Nation entstand erst sehr viel später: durch gnadenlose Ausbeutung, bitteres Elend – und die PKK. Sie diente den Armen einen nationalen Ausweg an nach dem Motto: „Das Elend herrscht, weil ihr Kurden seid.“

Obgleich der türkische Staat den kurdischen Aufstand erbarmungslos bekämpfte, obgleich er die Menschenrechte mit Füßen trat, hat er das Rechtssystem, das allen türkischen Staatsbürgern gleiche Rechte garantierte, im Prinzip nicht angetastet. Zwar war lange Zeit alles Kurdische verboten, aber als Türken genossen die Kurden die gleichen Rechte. Dieser Umstand und die gemeinsame Religionszugehörigkeit unterscheidet die Verhältnisse in der Türkei von jenen auf dem Balkan oder etwa in Nordirland.

Nach der Entführung Öcalans geht bei der PKK politischer Realitätsverlust einher mit Isolierung. Ganz anders sieht es beim türkischen Staat aus. Er hat sich offensichtlich bis ins letzte Detail auf die Post-Öcalan-Ära vorbereitet. Ihm wäre es ein leichtes gewesen, Hunderttausende auf die Straße zu bringen, die Öcalans Kopf fordern. Doch Ruhe wurde verordnet. Statt dessen spricht ein ganz staatsmännischer Ministerpräsident Bülent Ecevit fortwährend von einem „fairen, rechtsstaatlichen Prozeß“ und hebt hervor, daß er gegen die Todesstrafe sei und ein Amnestiegesetz für aussagewillige PKK- KämpferInnen vorbereite.

Die Türkei steht kopf. Der sozialdemokratische und nationalistische Politiker Ecevit spürt den Aufwind und spekuliert auf einen Großteil der kurdischen Stimmen bei den Wahlen im April. Die langen Kämpfe haben zermürbt, was an Zivilbevölkerung im kurdischen Osten übriggeblieben ist. Aus ganz pragmatischen Gründen schwingt das Pendel aus zu jenen, die nun, wie Ecevit, versprechen, Geld in die Region zu pumpen.

Die Kurden haben verloren. Zu den Verlierern gehört auch die EU, die zur Türkei stand (und Waffen lieferte), sich aber auch die Option eines Kurdistans im Nahen Osten offenhielt. Der türkische Staat wird diese Halbherzigkeit auch im Prozeß gegen Öcalan nicht vergessen. Gewinner sind neben der Türkei die USA, die durch strikte Parteinahme für die Türkei entscheidenden Anteil am Ende der PKK hatte. Jetzt planen sie das Ende von Saddam Hussein. Im Juni sollen im kurdischen Nordirak Wahlen stattfinden. Das Ende der PKK war die türkische Bedingung für die Duldung des Mini- Kurdistans im Nordirak. Unter der Obhut der türkisch-amerikanischen Allianz (Ankara arbeitet am Aufbau des kurdischsprachigen Fernsehsenders) dürfen „brave“ Kurden nun gegen Saddam Hussein Politik machen. So gesehen ist der Golfkrieg immer noch nicht zu Ende. Ömer Erzeren