„Schieb alle Schuld auf mich“

■ Scheitern am eigenen Apparat – der ehemalige ÖTV-Chef Rolf Fritsch resümiert seine 90er Jahre

Nicht nur die Männer von der Stadtreinigung müssen inzwischen niedrigere Löhne in Kauf nehmen. „Im europäischen Wettbewerb“ sind unterschiedliche Tarife im öffentlichen und privaten Bereich eben „nicht haltbar“, sagt Rolf Fritsch (Foto links). Von 1991 bis 1999 war Fritsch Chef der Hamburger ÖTV. Daß in dieser Zeit immer noch verschiedene Tarifverträge abgeschlossen wurden, je nachdem, ob es etwa um den öffentlichen oder den privaten Personennahverkehr ging, sei „möglicherweise ein großer Fehler“, räumt der 54jährige heute ein. Ehemalige linke Weggenossen werfen ihm Verrat an den einstigen Idealen vor. In der Stuttgarter ÖTV-Zentrale wird er dagegen immer noch als aufmüpfiger Linker gehandelt.

taz: Vor sieben Jahren sind Sie als Erneuerer angetreten. Sie wollten die Hamburger ÖTV aus dem Mief der Wiederaufbaujahre führen und inhaltsleere Rituale abschaffen. Ist das gelungen?

Rolf Fritsch: Nein. Ich habe die Probleme unterschätzt. Veränderungen sind mir nur begrenzt gelungen. Rituale abzuschaffen bedeutet auch immer, daß diejenigen, die in solchen Ritualen aufgehen, sich beeinträchtigt fühlen.

1991 haben Sie verkündet: Jetzt müssen wir zeigen, was wir können.

Ich bin angetreten, Visionen umzusetzen, und fühlte mich in den letzten Jahren teilweise sehr verengt auf Konsolidierungspolitik. Die staatliche Sparpolitik hat unsere Spielräume eingeschränkt. Wir mußten den Aufbau im Osten mitfinanzieren und nach dem teuren Arbeitskampf 1992 die ÖTV-Kasse konsolidieren. Ich habe versucht, die ÖTV durch die Widrigkeiten zu bringen – das ist weitgehend gelungen. Wir haben uns konsolidiert, Personal abgebaut, die Ausgaben eingeschränkt. Aber es gab Probleme, die wir nicht lösen konnten.

Welche?

Materiell hat die Tarifpolitik nicht die Erfolge gebracht, die ich mir versprochen hatte. Ich wollte weg von der reinen Lohnmaschine hin zu mehr Gestaltung – da hat meine Überzeugungsarbeit nicht genug gefruchtet.

Bei wem?

Ich habe das starke Beharrungsvermögen in der ÖTV unterschätzt.

Bei ihrer Antrittsrede drohten Sie: „Mancher fürchtet, ich würde mit dem eisernen Besen kehren. Es kann sein, daß er recht behält.“

Ich hab auf den eisernen Besen verzichtet und statt dessen auf den sanften Druck der Realität gebaut.

Mit Erfolg?

Ich bin auf sehr starke Widerstände gestoßen. Es ist zum Beispiel absurd, Tarifforderungen in der Großen Tarifkommission mit 200 Mitglieder und Funktionären zu behandeln. Wenn eine Organisation wie die ÖTV es sich erlaubt, 70 bis 80 Prozent ihrer Arbeit auf Gremienarbeit zu beschränken, dann fehlt die Zeit für Inhalte.

Haben Sie die ÖTV nicht überfordert?

Schlimmer. Man wollte mir ein Denkverbot erteilen. Ich sollte vor öffentlichen Äußerungen die Gremien um Erlaubnis fragen. Interessant ist, wie damals umstrittene Vorschläge heute Allgemeingut sind – ob in Sachen Arbeitszeitflexibilisierung oder Öffnung von Tarifverträgen. Wenn ich sehe, wie diejenigen, die mir damals böse Briefe geschrieben haben, heute selbst solche Positionen vertreten, dann wundere ich mich, wieviel Zeit manche Funktionäre brauchen, bis sie den ökonomischen Realitäten Rechnung tragen.

Hatten Sie bei der Politik mehr Glück? Einer Ihrer Verhandlungspartner, Innensenator Wrocklage, betont doch, die Finanzkrise sei Motor für Reformen.

Wenn das stimmt, hätte er ja selbst ein großer Erneuerer sein müssen, und das ist er nicht. Wir sind mit einseitigen, kurzsichtigen und sehr buchhalterischen Sparzwängen konfrontiert worden. Kreative Ansätze wurden nicht mitgemacht. Wer aber allein auf den kurzfristigen Ausgleich des Betriebshaushaltes setzt, verschärft die Probleme auf dem Arbeitsmarkt. Die Finanzpolitik in Hamburg verhält sich prozyklisch. Das ist beanstandenswert. Ich bin zwar auch nicht für eine Ausweitung der Schulden – aber zumindest sollten Prioritäten etwa bei der Bildung gesetzt und bei den Einsparungen ausgeklammert werden.

Hat die ÖTV mit ihrem jüngsten Tarifabschluß nicht Schaden angerichtet? Der Spardruck wird sich erhöhen, noch mehr Stellen fallen weg.

Das ist doch nicht eine Folge der Tarifpolitik, sondern der Sparvorgaben. Die Haushaltsvorgaben sind mit 1,5 Prozent kalkulierter Tariferhöhung viel zu niedrig angesetzt. Seit Jahren diskutieren wir mit Hartmuth Wrocklage Modelle zur Arbeitszeitverkürzung, die an die Schaffung neuer Stellen gekoppelt sind. Bis auf ein paar Vorzeigefälle ist nichts passiert, der Innensenator hat sich einem Konzept verweigert. Ein zweites Beipiel: Altersteilzeit ist nach dem Tarifvertrag für den Öffentlichen Dienst seit kurzem möglich – wird in Hamburg aber nicht umgesetzt.

Sie fordern eine Reform des Flächentarifvertrags.

Dazu gibt es auf Dauer keine ernsthafte Alternative. Der Flächentarifvertrag soll weiterhin den Rahmen bilden. Wir brauchen aber eine Marge, die sich an den betrieblichen Bedingungen orientiert. In ein oder zwei Jahren wird niemand mehr verstehen, warum wir uns so lange dagegen gesperrt haben.

Die Öffnung bisher geschützter Märkte führt die Hamburger Hochbahn, die Wasserwerke oder die Stadtreinigung in den Wettbewerb. Da gibt es jetzt eine Lohnanpassung nach unten. Pikanterweise orientieren sich die niedrigeren Gehälter meist an ÖTV-Tarifen.

Die ÖTV hat in der Vergangenheit oft eine Branche in mehreren Tarifverträgen mit weit auseinander driftenden Bezahlungstrukturen geregelt, beispielsweise den privaten und den öffentlichen Personenverkehr. Dazu kommen Haustarifverträge. Das ist im europäischen Wettbewerb nicht haltbar. Es ist uns leider weder bei den Schleppern noch bei der Hochbahn gelungen, unsere Zwangssituation begreiflich zu machen und nach Alternativen zu suchen. Ich habe keine andere Möglichkeit gesehen, als den Übergang sozialverträglicher zu gestalten. Für die Betroffenen ist das bitter.

Trägt die ÖTV nicht eine Teilschuld, weil sie gleiche Arbeit mit unterschiedlichem Lohn gebilligt hat?

Natürlich. Seit Beginn der 90er Jahre hätten wir wissen müssen, was passiert, wenn wir unterschiedliche Tarifverträge machen. Wir hätten uns viel stärker darum kümmern müssen, die Spanne zu verkleinern. Möglicherweise haben wir da große Fehler gemacht. Das holt uns heute ein.

Jetzt werden Sie Arbeitsdirektor bei der HHLA – die Flucht auf einen gut dotierten Posten?

Eine Flucht ist es sicher nicht. Es hat sich ergeben. Ich bin Volkswirt und habe es immer ein bißchen vermißt, meiner eigenen Neigung nachgehen zu können, mich also mit Globalisierung und Standortfragen zu beschäftigen.

Kommt es jetzt zu Lohnsenkungen bei der HHLA?

Nein. Wenn das Unternehmen sich im Wettbewerb behauptet, eröffnet das Verteilungsspielräume. Die HHLA hat Haustarifverträge – was nicht bedeutet, daß sie mehr zahlen kann als der Wettbewerb erlaubt. Aber es gibt Gestaltungsspielräume, die ich für gut halte und die ausgebaut werden können. Man muß diejenigen überzeugen, die die Tarifpolitik ertragen müssen. Da bringe ich aus der ÖTV einiges an Erfahrung mit. Die Kolleginnen und Kollegen werden keinen Grund haben, sich zu beklagen.

Beklagt hat sich häufig einer: Ex-Bürgermeister Henning Voscherau.

Das Verhältnis zum Bürgermeister ist seit der Tarifauseinandersetzung 1992 problematisch. Vosche-rau hatte wohl den Eindruck, daß ich ihn nicht genügend wertschätze. Dieser Konflikt hat sich fortgesetzt und ist nie richtig bereinigt worden. Dabei hätte es bestimmt Gemeinsamkeiten gegeben. Ich jedenfalls kann mir nicht vorwerfen, Gestaltungsspielräume nicht genutzt zu haben, weil ich nicht ins Gästehaus des Senats gepilgert bin.

Was empfehlen Sie Ihrem Nachfolger Wolfgang Rose?

Eine der ältesten Anekdoten der verblichenen Sowjetunion handelt von drei Briefen. Sie wurden von jedem Staatschef für den jeweiligen Nachfolger geschrieben, immer mit der Bemerkung, sie der Reihe nach zu öffnen, wenn die Not am größten sei. Inhalt des ersten Briefes: „Schieb alle Schuld auf mich.“ Inhalt des zweiten Briefes: „Kündige bahnbrechende Reformen an.“ Inhalt des dritten Briefes: „Schreibe drei Briefe an deinen Nachfolger.“

Interview: Florian Marten

Fotos: Markus Scholz