Wildwest im Wunderland der Medien

■ Hamburgs Call-Center-Szene boomt. Die Wirtschaftsbehörde jubelt. Die Beschäftigten fluchen. Und die DAG bemüht sich um einen ersten Tarifvertrag für die Branche

„Sie werden von der ersten Minute an konstruktive Partnerschaft spüren. Wir beraten Sie auch zu Projekten, die bei Ihnen noch gar nicht spruchreif sind.“ Wer den „Ethik“-Button auf der Website der Hamburger D & S Dialog Marketing anklickt, wird mit tiefschürfenden Erkenntnissen aus erster Hand bedient: „Man muß nicht erst in die Glaskugel schauen, um zu erkennen, daß der Dialogmarkt weiter wachsen wird.“

Konstruktive Partnerschaft für ein noch nicht spruchreifes Projekt suchte gestern auch D & S-Betriebsrätin Manuela Thal. Sie traf sich mit KollegInnen aus anderen Betrieben bei der Deutschen Angestellten Gewerkschaft (DAG) zu einem Call-Center-Brunch. Ihr Fernziel: ein erster Tarifvertrag für die Call-Center-Branche.

Denn Call-Center-Agenten verdienen im Durchschnitt 14 bis 18 Mark brutto pro Stunde. Das rasante Wachstum der jungen Branche, die zur Freude der Wirtschaftsbehörde mittlerweile schon mehr als 10.000 Arbeitsplätze allein in Hamburg bietet, höhlt ganz nebenbei die Basis der Gewerkschaften aus. Es handelt sich nämlich, so mahnte gestern DAG-Call-Center-Spezialist Heinz-Josef Itkowiak, „kaum um neue Arbeitsplätze, sondern vor allem um Umschichtungen“. Damit nicht genug. Für Itkowiak steht die gesamte Dienstleistungsbranche am Beginn einer gigantischen Rationalisierungswelle, „so wie in den 20er Jahren das Fließband die industrielle Produktion“ aufmischte. „60 bis 90 Prozent der Dienstleistungsprodukte sind standardisierbar.“

Erfolgsgeheimnis der Call-Center ist genau diese Standardisierung. Während die gute alte Telefonzentrale nicht selten in einen „Ich verbinde Sie weiter“-Irrgarten führt, liefern gute Call-Center kundenorientierte Problemlösungen aus einer Hand: Die freundliche Telefonstimme soll – vor allem mit Hilfe integrierter EDV-Unterstützung – Kunden so beraten, daß Vorgänge wirklich abgeschlossen werden. Hermann Thöns von der Firma Sykes-Nord erläutert: „Wenn du eine Hotline für ein Kinder-PC-Programm betreust und Kinder am Telefon durch so ein Programm lotsen sollst, dann kannst du keine Pappnase ans Telefon setzen.“

„Allround-Talente am anderen Ende der Leitung mit guter Stimme, Lust am Dialog und einem ausgeprägten Sinn für Beratung“, verheißt D & S und lobt mit hanseatischem Understatement: „Wir sind da ein bißchen stolz auf unsere Leute, die zu den Besten der Branche gehören.“ Ob junge Jura- oder BWL-Studenten bei Haspa-Direct und promovierte Biologen bei Sykes-Nord, wer morgens Impulse-Käufer überzeugen, mittags Pro7-Anrufer beruhigen und abends Abonnenten der Neuen Züricher Zeitung betreuen soll muß schon allerhand mitbringen.

In wundersamem Kontrast zum hohen Anspruch in puncto „Allround-Talent“ steht die Bezahlung: Mit Billigstundenlöhnen je nach tatsächlichem Arbeitsanfall, Arbeitszeiten rund um die Uhr und überwacht von einem ausgeklügelten High-Tech-Kontrollsystem kommen nur die wenigsten MitarbeiterInnen von Call-Centern auf mehr als 2500 Mark brutto im Monat.

Bedeutete der Vormarsch der Fließbänder für die Gewerkschaften noch neue Mitglieder, führt der Call-Center-Boom zum Gegenteil: Tarifverträge gibt es nicht, Scheinselbständigkeit, 630-Mark-Jobs und knallharte, meist sogar befristete Arbeitsverträge bestimmen die Szenerie. Gerade bei kleinen Firmen sind Arbeit ohne Lohnsteuerkarte, verspätete Lohnzahlungen und ein Heuern-und-Feuern nach bestem US-Vorbild an der Tagesordnung. Selbst überdurchschnittlich zahlende Firmen wie die Haspa-Tochter Haspa-Direct liegen gleich um mehrere Stationen unter dem Niveau der Tarifverträge im Mutterhaus. Dabei zahlt Haspa-Direct immerhin 19 Mark brutto pro Stunde und bietet unbefristete Arbeitsverträge.

Genau dieses Elend führte gestern mehr als 30 Interessierte bei der DAG zusammen. Ein Arbeitskreis Call-Center soll jetzt in gemeinsamer Arbeit die Branche durchleuchten und ein „Call-Center-Netzwerk“ der Beschäftigten aufbauen helfen. Nahziel ist es, so Manuela Thal, „Mindeststandards zu verabreden“, um später dann zu ersten Haustarifverträgen zu kommen. „Vielleicht schon in vier bis fünf Jahren“, so hofft DAG-Sprecher Jörg-Dieter Bischke, „kann es einen regionalen Branchentarif in Hamburg geben.“ Florian Marten