Exotischer Nachholbedarf

Deutsche Geschichtsforscher rechnen mit einer Generation ab, die lange tot ist. Ein Symposium der Böll-Stiftung und der Europa-Universität Viadrina  ■ Von Volker Weidermann

Die Debatte, die die deutschen Geschichtsforscher seit dem letzten Historikertag über die Vergangenheit ihres Faches führen, hat etwa Gespenstisches: Hier wird eine Aufklärung nachgeholt, die in anderen Fachbereichen vor etwa dreißig Jahren stattfand. Und es ist auch gar keine wirkliche Debatte mehr, die hier stattfindet, da die Wissenschaftler, die sich zu tatkräftigen Vordenkern der nationalsozialistischen Vernichtungspolitik machten, inzwischen alle gestorben sind. So geht der moralische Rigorismus, der sich auch vergangenen Freitag auf einem von der Böll-Stiftung gemeinsam mit der Europa-Universität Frankfurt (Oder) veranstalteten Symposium zum Thema „Historiker und Nationalsozialismus“ mitunter einstellte, ins Leere. Beziehungsweise er sucht sich neue, lebendige Ziele, die aber nicht recht als Ziel taugen wollen.

Die Enthüllungen der Historikerzunft konzentrieren sich seit Anfang der neunziger Jahre vor allem auf Werner Conze und Theodor Schieder, die zu Beginn der dreißiger Jahre ihrem Lehrer Hans Rothfels an die Universität Königsberg folgten und dort im Namen einer neuen Volksgeschichte die Homogenität des deutschen Staatsvolkes sowie die „Entpolung“ und „Entjudung“ Osteuropas wissenschaftlich fundiert einforderten. Diese drei wurden später zu einflußreichen, schulebildenden Geschichtsforschern der Bundesrepublik. Vor allem Schieder galt als durchaus liberaler, fortschrittlicher Mann seiner Zunft, der sich relativ früh kritisch mit der nationalsozialistischen Vergangenheit Deutschlands auseinandersetzte. Nur eben nicht mit seiner eigenen. Ein Vorwurf, den man dem 1984 gestorbenen Schieder nun leider nicht mehr machen kann. Aber seinen Schülern. Vor allem Hans-Ulrich Wehler, einem der kritischsten und einflußreichsten Köpfe in der bestallten westdeutschen Nachkriegsgeschichtswissenschaft, der sich spätestens seit dem letzten Historikertag massiv fragen lassen muß: Warum haben Sie über die Vergangenheit Ihres Lehrers nicht nachgeforscht, Herr Wehler?

Es ist eine merkwürdige Debatte der zweiten mit der dritten Generation, die sich da bei den Historikern abspielt. Der Beschuldigungsfuror der Jungen ist zum Teil derselbe, als hätten sie noch mit den Tätern abzurechnen: Atemlos vor Erregung trat etwa der junge Historiker Michael Fahlbusch, der mit einigen vielbeachteten Arbeiten über volksdeutsche Forschungsgemeinschaften hervorgetreten ist, ans Rednerpult. „Ich spreche hier von schonungsloser Aufklärung“, ruft er zu Beginn seiner flammenden Rede aus, in der er Beiträge, in denen Ingo Haas und Mathias Beer zuvor ruhig und sachlich ihre beeindruckenden Forschungsergebnisse zur deutschen Historikervergangenheit vorgetragen hatten, kommentiert. Er spitzt sie zu, lädt sie moralisch auf und gibt ihnen vor allem eine Richtung, eine neue Richtung auf ein lebendiges Ziel. Sein Zeigefinger peitscht immer wieder in dieselbe Ecke des Saales. In die Ecke, in der Hans-Ulrich Wehler sitzt. Mit stechendem Blick werden die Anklagepunkte aufgezählt: „Verdunkelung“, „rhetorische Verfehlungen“ und „Pfründe in Sicherheit bringen“.

Wehler läßt solche „charmante Ignoranz von Herrn Fahlbusch“ locker abtropfen und gibt seine Sicht der Dinge, indem er recht überzeugend darzulegen vermag, was er über seinen Lehrer bei damaliger Quellenlage herausfinden konnte und was nicht. Eine Selbstverteidigung, die auch sein Hauptankläger Götz Aly, der bedauerlicherweise, ebenso wie Peter Schöttler, wegen verletzter Eitelkeit an dem Symposium nicht teilnahm, in zuvor veröffentlichten Angriffen gegen Wehler nicht entkräften konnte.

Trotzdem gab es am späteren Abend noch einen sehr erstaunlichen Wehler-Auftritt. Der emeritierte Geschichtsprofessor, der es gewohnt war, in seinem langen Forscherleben immer auf der moralisch richtigen Seite zu stehen, und an Verurteilungen nie sparte (Walser!, Nolte!, Schmitt!), fängt bei seinem Lehrer Theodor Schieder, der nachweislich ein einflußreicher Vordenker der „Bevölkerungspolitik“ der Nazis im Osten gewesen ist, plötzlich zu „verstehen“ an. Das war „der Sog des Neuen, das kann ich mir sehr gut erklären“, meint Wehler. Und er versteht auch „die Sogkraft, wenn man dem Teufel einmal die Hand gegeben hat“. Ganz unglaublich wird es allerdings, wenn er anfängt, davon zu reden, daß „Entjudung damals Teil der wissenschaftlichen Semantik war“. Da könne man nach Rußland schauen, nach Polen auch. Ja und? Wehler ist nicht mehr Wehler, wenn er über seinen Lehrer spricht. Dabei stimmt er im moralischen Urteil mit den anderen Vortragenden überein. „Schreibtischtäter, das ist ganz klar.“

Aber die Art, wie hier ein alter Herr an diesem Abend um seine wissenschaftliche Biographie rang, das ließ doch tief blicken in eine Wissenschaftszunft, die immer noch so starr, patriarchalisch und dynastienartig verwoben ist, daß die Entlarvung des Lehrers, dem man sich ein Forscherleben lang verpflichtet zu fühlen gewohnt ist, die Fundamente der eigenen Lehrbiographie ins Wanken bringen kann. Es ist dieser inzestuöse Zunftgedanke der Historiker, der auch daran schuld ist, daß die notwendige Debatte über die eigenen Verstrickungen so lange herausgezögert werden konnte. Jetzt ist sie da, und die Historiker täten gut daran, ihre Vergangenheit restlos aufzuklären, den „exotischen Nachholbedarf“, wie Wehler es nannte, voll zu befriedigen, sonst werden Rufe wie der des Kulturwissenschaftlers Heinz Dieter Kittsteiner zu Recht immer lauter werden, der locker forderte: „Ich will diese Zunft nicht erhalten wissen.“