Esten stimmen für einen Regierungswechsel

■ Mitte-rechts-Parteien setzen sich bei Wahlen durch. Wahlschlappe für bisherigen Premier

Talinn (taz) – Estland wird künftig von einer Koalition aus drei Mitte-rechts-Parteien regiert werden. Bei den Parlamentswahlen vom vergangenen Sonntag errang der bisherige Ministerpräsident Mats Siimann und seine Regierungskoalition aus Koalitionspartei, Landpartei und Rentner- und-Familien-Partei nur sieben Mandate. In der Opposition verbleibt vermutlich der eigentliche Wahlsieger: Ex-Ministerpräsident Edgar Savisaar und seine linke „Zentrumspartei“. Das Zentrum wurde zwar mit 28 Prozent der Stimmen stärkste Partei im Parlament, dem Riigikogu, wird aber wohl keine Regierungsmehrheit zusammenbekommen. Zudem hat Staatspräsident Lennart Meri, der dem Parlament einen Ministerpräsidentenkandidaten vorschlägt, klargemacht, daß dies nicht in erster Linie Savisaar sein werde.

Die Regierung dürften statt dessen eine Dreiparteienkoalition aus der Reformpartei des Ex-Nationalbankchefs Siim Kallas, Mats Laars rechter „Für das Vaterland- Partei“ und den „Konservativen“ – die in Estland als rechts-sozialdemokratisch gelten – von Andres Tarand bilden. Diese haben zusammen 53 der 101 Sitze errungen.

Zwar sind sich diese Parteien über eine Fortsetzung der auf eine EU-Mitgliedschaft gerichteten Außen- und Wirtschaftspolitik einig. Als „links“ gilt aber den beiden anderen extrem marktliberalen Parteien die Absicht von Tarands „Konservativen“, die sozialen Auswirkungen der Privatisierungspolitik über eine Art „soziale Marktwirtschaft“ abzufedern. Estlands Gesellschaft ist von wachsenden Klüften zwischen Arm und Reich sowie der Stadt- und der Landbevölkerung geprägt. Der Wahlerfolg für Savisaars Zentrumspartei, der sich zum Sprecher der benachteiligten Gruppen gemacht hatte, und eine niedrige Wahlbeteiligung von nur 56 Prozent sehen AnalytikerInnen als deutliches Signal dafür, daß die Unzufriedenheit auf dem Land und bei den IndustriearbeiterInnen bald ähnlich massiv zum Ausdruck kommen könnte wie in Polen und in Rumänien.

Einer Lösung näher gekommen dagegen das Problem einer Integration der russischen Minderheit. Zwar waren bei dieser Wahl mangels Staatsbürgerschaft nur etwa ein Drittel dieser Bevölkerungsgruppe wahlberechtigt – die Einbürgerungsvoraussetzungen wurden aber liberalisiert. Auch gelang es einer Partei der russischen Minderheit, die 5-Prozent-Hürde zu überspringen und mit sechs Abgeordneten ins Parlament einzuziehen. Zur weiteren Entspannung dürfte beitragen, daß sich Moskau und Tallinn auf ein Abkommen zur endgültigen Grenzziehung zwischen Rußland und Estland geeinigt haben. Reinhard Wolff