Verbotene Liebe

Der Wille zum Holocaust-Film. In ihrem Film „Meschugge“ produzieren Dani Levy und Maria Schrader schwere Zeichen. Denn wir können auch anders. Nach der Komödienwelle kommen jetzt die neue Ernsthaftigkeit und ein neuer Versuch in Vergangenheitspolitik  ■ Von Harry Nutt

Der authentische Zeuge des Holocaust, mutmaßte kürzlich der ungarische Schriftsteller Imre Kertész (in der Zeit vom 19. November 1998), „ist schon bald nur im Weg, man muß ihn beiseite schieben wie ein Hindernis“. Die Erinnerung an den Holocaust im Zeichen eines sportlichen Wettstreits? Nach langen Jahren angstvollen Schweigens galt eben noch die Befürchtung, daß mit dem Sterben der letzten Zeitzeugen authentisches Wissen für immer verloren sein könnte. Inzwischen wird in der Tat auf unterschiedliche Weise Anspruch auf das Zeichen Auschwitz erhoben, und die authentische Erfahrung scheint nur eine Möglichkeit neben anderen, die Jahrhundertkatastrophe zu vergegenwärtigen.

Letztlich ist auch Steven Spielbergs atemberaubende wie monumentale Sammlung von mehr als 50.000 Gesprächsaufzeichnungen mit Holocaust-Überlebenden ein Medienerzeugnis des sogenannten Shoah-Business. Das muß keineswegs pejorativ verstanden werden. Es entwickle sich, so Kertész, ein Holocaust-Konformismus, ein Holocaust-Sentimentalismus, ein Holocaust-Kanon, ein Holocaust-Tabusystem und eine dazugehörige zeremonielle Sprachwelt. Daß innerhalb dieses Referenzsystems beinahe wöchentlich neue Produkte entstehen, mochte Kertész am Ende nicht beklagen. Auf die bange Frage „Wem gehört Auschwitz?“ konnte er anläßlich Roberto Benignis Film „Das Leben ist schön“ mit Genugtuung schließen: „Benigni, Jahrgang 1952“, sei ein Vertreter einer neuen Generation, „die mit dem Gespenst von Auschwitz ringt und die den Mut und auch die Kraft hat, ihren Anspruch auf dieses traurige Erbe anzumelden.“

Das braucht eben seine Zeit. Feinfühlige Beobachter des deutschen Filmschaffens können an dieser Stelle vielleicht überzeugend darlegen, wie nach der affektiven Auseinandersetzung mit der deutschen Vergangenheit à la Rainer Werner Fassbinder in den 70er Jahren sich danach erst einmal der Hang zu schnoddrigem Spaßkino Platz verschaffen mußte. Ganz wie unmittelbar nach Kriegsende den Staudte-Filmen bald Verwechslungskomödien mit Peter Alexander oder Walter Giller folgten. Am Ende der 90er geht es nun wieder ernster zu. Wir können auch anders. Filme wie „Fette Welt“ von Jan Schütte und „Nachtgestalten“ von Andreas Dresen wollen von hedonistischer Fettlebe nichts mehr wissen und suchen das Authentische ganz unten auf. Die Kamera hält wieder drauf aufs Soziale. Andere gehen einen Schritt weiter und versuchen sich an Vergangenheitspolitik.

Zum Filmvorspann von „Meschugge“ lodert Feuer auf. Neonazis haben einen Anschlag auf eine Schokoladenfabrik in Deutschland verübt, dessen über 90 Jahre alter Inhaber Eliah Goldberg (Lukas Ammann) heißt. Lena Katz (Maria Schrader), Goldbergs Enkelin, reist eigens aus New York an, um nach dem rechten zu schauen. Nur Sachschaden, Gottlob ist nichts passiert. Zurück in New York, wo Lena als Set-Designerin beim Film arbeitet, wollen ihr die pyrotechnischen Finessen ihrer Arbeit nicht mehr von der Hand gehen. Vorbei die Zeit der Unbekümmertheit, der Lichterglanz des schönen Lebens schlägt um in Angst und Aversion. Der Gefühlshaushalt der jungen Frau mit jüdischem Namen, aber unjüdischem Aussehen ist heillos durcheinandergeraten.

Mit ihrem ersten gemeinsam konzipierten Film „Meschugge“ begeben sich Dani Levy, Schweizer jüdischer Herkunft, und die für ihre Rolle in „Aimée & Jaguar“ eben erst mit einem „Silbernen Berlinale-Bären“ dekorierte Schauspielerin Maria Schrader auf geschichtsthrillerhafte Spurensuche nach New York. „Meschugge“ ist ein ehrgeiziges Projekt. Mehr als zehn Jahre, heißt es, haben Schrader und Levy auf die Realisierung des Projekts verwandt. Die historische Schuld, so die Idee zum Film, soll sich zu einem Familienepos bei irritierender Durchdringung von Opfer- und Täterperspektive verdichten. Im Mittelpunkt stehen zwei Nachgeborene, die nicht sagen können sollen, die Geschichte ginge sie nichts an. Die Vernichtung der Juden drängt sich zwischen sie und ihn in der Stunde, da sie nichts voneinander wußten. Nach entsprechender Dramatisierung, überraschenden Wendungen im Plot und der Enttarnung der wahrhaft Schuldigen muß die schwierige Liebe des Paars am Ende einer kathartischen Reinigung zugeführt werden. Hört sich kompliziert an? Ist es auch.

Die Gewißheiten, die ein Leben verstehbar machen und zusammenhalten, werden in „Meschugge“ gründlich erschüttert. Das ist der Stoff, aus dem man einen Psychothriller macht. Lena Katz wird mit der Entdeckung konfrontiert, daß ihr Leben auf völlig falschen Annahmen aufgebaut war. Um es an dieser Stelle vorsichtig anzudeuten: Sie ist nicht die, die sie glaubt zu sein, und ihr kluger und gutherziger Großvater blickt am Ende seines Lebens nicht nur auf eine Opferbiographie zurück. Das wäre schon Stoff genug für einen wahrhaft spannenden Film zum anspruchsvollen Thema. Es drängte das junge Regiepaar aber zusätzlich noch, die Erfahrungen ihrer Liebesbeziehung einzuarbeiten. Grabe, wo du stehst, lautete seinerzeit die Losung, die allerlei Verständigungstexte auf dem Weg zur individuellen Selbstverwirklichung entstehen ließ. Heute können dabei mitunter Liebesthriller mit historischer Aufklärung herauskommen. Dani Levy spielt David Fish und verliebt sich in Lena Katz, die seit der Sache mit dem Feuer vom Unheil gezeichnet zu sein scheint. Sie begegnen einander auf der Intensivstation, wo Davids Mutter, eine Jüdin, die den Holocaust überlebt hat, die Entdeckung der wahren Geschichte ihrer Emigration aus Deutschland mit dem Leben bezahlt. Wie in jedem guten Thriller entsteht der sanfte Schrecken aus einem Zuviel an Kontingenz, einem übergroßen Input an Zutaten und einem Zuwenig an Zusammenhang.

Dani Levy und Maria Schrader haben ihren Film vor allem mit dräuenden Zeichen aufgeladen. Die gute Lena, die in einem New Yorker Hotel Davids verletzte Mutter findet, befleckt sich mit deren Blut und wechselt einen ganzen Tag lang das verschmierte Kleid nicht. Warum bloß wird sie in den darauf folgenden Szenen nicht ein einziges Mal gefragt, wie unpassend sie dasteht, so blutverschmiert? Es ist, als hätten die Figuren das Drehbuch gelesen und wagten keine weiteren Einwände gegen die schweren Zeichen. Es kommt aber noch dicker. Lena fügt sich bei der Spurensuche nach ihrer Familiengeschichte eine gefährliche Brandverletzung am Hals zu, an eben jener Stelle, wo auch ihr Großvater eine längst verheilte, aber immer noch sichtbare Narbe trägt. Während der Großvater das Kainsmal unterm Halstuch zu verstecken sucht, trägt Lena es als Trophäe. Was ist ihr Geheimnis, und wieviel Böses steckt im Erbgut?

Für Schrader und Levy ist die Nazivergangenheit weniger eine historische Katastrophe, zu der Dokumente in Archiven, Schließfächern von Banken und anderswo führen, sondern eine Art mystischer Erfahrung. Mehr oder weniger aus Versehen bringt Lena einen jüdischen Rechtsanwalt (David Strathairn) in Lebensgefahr, der einmal als Nazijäger für eine militante israelische Organisation gearbeitet hat. Wie zum Beweis geschichtlicher Genauigkeit des Films zeigt ihn ein Foto neben dem israelischen Verteidigungsminister Moshe Dayan. Den obsessiven Anwalt läßt die Vergangenheit ebenfalls nicht los. Die Beschreibung der Verstrickungen der Akteure und die Bearbeitung mit schweren Symbolen ließe sich fortsetzen. Sie sind Bestandteil eines pädagogischen Projekts, das den Schulddiskurs aufnehmen und zu guter Letzt auch zu Ende bringen will. Zurück zum Trauma, durcharbeiten und alles wird gut.

Lena erhält die Chance zur Bewährung, die Bombe tickt, aber sie explodiert nicht. Im Baumhaus ihrer Jugendzeit kann David ihr schließlich eine schöne Parabel erzählen, aus der sie lernen kann, daß die verbotene Liebe zwischen ihr und ihm doch statthaben darf. Maria Schrader und Dani Levy scheitern in „Meschugge“ auf hohem Niveau. Ihr Wille zum Holocaust- Film ist vorerst aber wohl nur die Kehrseite zum geschmähten Komödienstadl. Die neue Ernsthaftigkeit des deutschen Films wird weitere Beschäftigungen mit der deutschen Vergangenheit hervorbringen. Das ist im Sinne von Imre Kertész nicht zu fürchten. Aber es braucht nicht nur den Mut und die Kraft, Anspruch auf das traurige Erbe anzumelden, sondern auch die Geduld, nicht gleich alles auf einmal erledigen zu wollen. Zehn Jahre Arbeit am Film waren diesmal nicht genug.

„Meschugge“, Regie: Dani Levy. Mit Maria Schrader, Dani Levy, David Strathairn, Nicole Heesters, Jeffrey Wright u.a. D 1999, 107 Min.