Ein Bierchen am Tag ist gesund

■ In Bremen startet kommende Woche eine große Kampagne gegen Alkohol / Aber was ist eigentlich ganz normaler Alltags-Alkoholkonsum? / Interview mit dem Bremer Suchtexperten Armand Hingsammer

Schon alkoholabhängig? Wo ist die Grenze? Wie hoch ist das Risiko? Wir sprachen darüber mit Armand Hingsammer, Chefarzt in der „Klinik für Psychiatrie und Psychotherapie“ am Zentralkrankenhaus Ost. Hingsammer arbeitet bei der Bremer Kampagne (siehe Kasten) mit und ist Verfechter einer neuen Suchtkrankenhilfe, die nicht erst beim totalen Zusammenbruch interveniert. Damit erreiche man nur ein Prozent der Betroffenen. Fast 70 bis 80 Prozent aller Alkoholabhängigen gehen jedoch regelmäßig zum Arzt. Bei Arztbesuchen sollten künftig alle Erstpatienten mit einem „Alkoholtest“ zum Gespräch angeregt werden. Diese Idee wurde bereits von der Bremer Ärztekammer angeschoben. Wir befragten Diplom-Psychologe Hingsammer zum Test und zum ganz alltäglichen Alkoholkonsum.

taz: Wieviel Alkohol trinken Sie?

Armand Hingsammer: Ich höre nach einem oder maximal zwei Bieren in aller Regel auf, war aber natürlich auch schon mal betrunken. Das gehört ja auch zu unserer Kultur dazu. Aber in bestimmten Situationen trinke ich nie. Zum Beispiel prinzipiell nichts beim Autofahren. Und genau in diese Richtung zielt ja auch der Aktionsplan Alkohol. Gezeigt werden soll doch nur, daß es zum einen in bestimmten Situationen problematisch wird – es aber auch für die Gesundheit bestimmte Grenzen gibt.

Und wo liegt die vieldiskutierte Grenze?

Die Grenze liegt bei 0,2 Liter Bier und bei 0,1 Liter Wein täglich. Bis zu dieser Grenze hin kann Alkoholkonsum gesundheitsfördernd sein. Das sind Ergebnisse von Untersuchungen über die Wirkung von Alkohol. Eine gesundheitsfördernde Wirkung wird bis zu einer Grenze von 0,2 Litern pro Tag diskutiert. Ab einem regelmäßigen Konsum von täglich etwa einem Liter Bier bei Männern und 0,7 Litern Bier bei Frauen muß von einem ansteigenden Gesundheitsrisiko ausgegangen werden. Ab da kann es auf Organe wie die Leber gehen oder auf das Nervensystem. Oder auf den Blutdruck.

Aber ehrlich gesagt: Muß man diesen Konsum nicht im Grunde über Jahre betreiben, bevor es wirklich an's Eingemachte geht?

Ab einer gewissen Konsumgrenze merkt das der Körper einfach, gerade wenn diese Grenze über lange Zeit hin überschritten wird. Damit ist man aber noch lange nicht sterbenskrank und möglicherweise auch noch lange nicht alkoholabhängig.

Wieso nicht?

In der Abhängigkeit unterscheiden sich die Menschen sehr stark voneinander. Auf jeden Fall kann man nicht einfach sagen: Der und der hat jetzt 1.000 Liter Bier getrunken und muß deshalb alkoholabhängig sein. Man kann es genau andersherum formulieren: Da hat jemand eine x-beliebige Menge an Alkohol zu sich genommen und merkt dann bestimmte Symptome: Nämlich, daß er langfristig eher mehr verträgt. Er merkt, daß er in bestimmten Situationen an Alkohol denkt, in denen es eigentlich völlig unpassend ist. Er merkt, wie er seinen Konsum organisiert und überlegt, was er einkaufen muß. Er merkt körperliche Entzugsphänomene, zum Beispiel ein leichtes Zittern oder Unruhe am Morgen.

Also wenn ich mir schon vorher überlege: Es gibt keinen Wein mehr im Haus, ich muß unbedingt für abends welchen kaufen, ist das bereits ein Zeichen?

Das könnte eines sein. Sie brauchen sich nur schon mal überlegt haben: Eigentlich trinke ich zuviel, ich müßte mal weniger trinken. Da überlegen Sie sich innerlich: Ich mache da etwas, von dem ich selber finde, daß es nicht so in Ordnung ist. Genau in diese Richtung zielt der Lübecker Alkoholtest. Er soll keine Schuldgefühle erzeugen, sondern ein problembezogenes Gespräch zwischen Arzt und Patient anregen.

Der Test ist also nicht zur Diagnose da, damit der Arzt später sagt: Sie haben zwei Fragen mit „Ja“ beantwortet und sind folgerichtig verdächtig, alkoholabhängig zu sein?

Nein, genau nicht. Es soll so sein, daß jeder Patient den Test zum Beispiel sofort bei der Erstuntersuchung bekommt. In Lübeck wurde das schon getestet und hat bei den Patienten viel Anklang gefunden. Nur zwei Prozent haben den Test zurückgewiesen. Viele waren dankbar, daß sie auf das Problem angesprochen wurden und haben es als besonderes Angebot der Praxis empfunden. Der Hintergedanke ist eigentlich der, daß man sich vergegenwär-tigen soll: Habe ich meinen Alkoholkonsum im Griff oder nicht? Können Sie mal zwei, drei Tage aussetzen ohne Probleme? Wenn Sie da Probleme haben, sollten Sie das einfach erstmal zur Kenntnis nehmen.

Und dann?

Dann schaut man erstmal gemeinsam, was los ist. Und rät dem Patienten, vielleicht ein Konsumtage-buch zu führen. Wann trinke ich? In welchen Situationen war das? Und wie sehen meine Laborwerte aus? Es geht also erstmal um Information über ein Problem, über das man dann diskutieren kann und sich fragen, ob man daran etwas verändern könnte.

Und wie könnte man das?

Man könnte versuchen, weniger zu trinken und Probleme anders zu lösen. Oft reicht ja auch die Auseinandersetzung. Da braucht man ja nicht gleich eine psychotherapeutische Behandlung. Eine Psychotherapie könnte aber durchaus bei psychischen Problemen empfohlen werden.

Das Ganze bedeutet für den Arzt zusätzlichen Aufwand. Die Resonanz war in Bremen bislang nicht sehr groß.

Wir müssen eben noch hart gegen die seit 20 Jahren verbreitete Einstellung anarbeiten, daß sich von außen gegen Alkoholabhängigkeit doch nichts tun läßt. Lange dachte man: Das hat doch alles keinen Sinn. Das muß der Betroffene selber regeln. Heute weiß man, daß das so nicht stimmt. Da haben wir erhebliche Fortschritte gemacht. Man wird jetzt in einem langen Prozeß dafür sorgen müssen, daß die Suchtmedizin mehr Gewicht bekommt und entsprechende Bausteine in die Facharztausbildung, aber auch in das Medizinstudium mit eingebaut werden. Vor einem Jahr wurde erst der erste Lehrstuhl „Suchtmedizin“ in der Bundesrepublik eingerichtet. Es sollten Weiterbildungen in „Suchtmedizin“ eingeführt werden. Mit diesem Zusatztitel könnten die Ärzte dann auch entsprechende Leistungen abrechnen.

Sie meinen, ohne diesen Titel würden die Ärzte den von ihnen geforderten hohen Betreuungsaufwand nicht leisten?

Sie sind vom Ethos her natürlich um die Gesundheit ihrer Patienten bemüht. Aber es sollte auch Abrechnungsmöglichkeiten geben.

Ärzte können nur am Symptom herumdoktern. Reichen Ihrer Meinung nach Werbekampagnen wie beispielsweise die Bremer Kampagne „Alkohol – alles im Griff“ gegen die Volksdroge Nummer 1 aus?

Sie sind ein Baustein von vielen – wie zum Beispiel das Einschränken von Werbung oder das Anheben von Getränkesteuern – die helfen könnten. Aber auch das wird natürlich nicht verhindern, daß es eine Reihe von Menschen gibt, die immer wieder alkoholabhängig werden.

Und warum schafft das die Droge Alkohol?

Sie ist eben einfach Bestandteil unserer ganzen Feierkultur. Außerdem geht es ganz stark um Erlebnisse von Rausch und Ekstase. Man kann ekstatische Erfahrungen auf ganz unterschiedliche Weise erleben – die einen machen Bungee-Jumping, die anderen nehmen Suchtmittel. Dann die Wirkung von Alkohol: Alles was in Richtung Unruhe, Ängstlichkeit und Überforderungsgefühl geht, wird durch Alkohol gut gedämpft. Und wir haben natürlich die Tendenz, uns gerade von unangenehmen Gefühlen zu befreien.

Fragen: Katja Ubben