Krankenkassen werben um gesunde Versicherte

■ Berlin ist ein teures Pflaster: Fast alle großen Kassen haben zum Jahreswechsel Tausende Mitglieder verloren. Nur Betriebskrankenkassen konnten von dem Wettbewerb profitieren

Mehrere zehntausend Mitglieder haben ihre Berliner Krankenkassen zum Jahresbeginn verlassen, um sich preiswerter versichern zu lassen. Zu den Verlierern gehören neben der AOK auch die Ersatzkassen und die BKK Berlin. Die Gewinner waren vor allem kleine Betriebskrankenkassen mit niedrigen Beitragssätzen, die mit Ausnahme der expandierenden BKK Verkehrsbau-Union nicht in Berlin ansässig sind. Allmählich drohe eine Aufspaltung in Kassen für Arme und solche exklusiv für Reiche, warnen Vertreter der AOK und der Ersatzkassen.

Zur Erinnerung: Seit vor drei Jahren die freie Kassenwahl für alle Mitglieder der gesetzlichen Krankenversicherung eingeführt wurde, buhlen die Kassen auch um Pflichtversicherte. Berlin ist allerdings ein besonders schwieriges Pflaster: Aufgrund der Bevölkerungsstruktur, der medizinischen Überversorgung in beiden Stadthälften und der daraus resultierenden im Bundesvergleich hohen Kosten – vor allem im Krankenhausbereich –, müssen viele Kassen ihre Berliner Landesverbände subventionieren, um den Beitragssatz konkurrenzfähig zu halten: Ohne den Zuschuß von 300 Millionen Mark müßte etwa der Satz der Berliner AOK von derzeit 14,9 auf 17 Prozent steigen. „Wir haben auch Abgänge, weil Berliner ins Umland ziehen und sich viele, die arbeitslos geworden sind, über ihren Ehepartner familienversichern“, sagt Gabriele Rähse, Sprecherin der Berliner AOK. Trotz der Verluste von 45.000 Versicherten 1998 bleibt die AOK mit 765.000 Mitgliedern die mit Abstand größte Kasse der Stadt. Auch die Barmer Ersatzkasse mußte 6.500 Abgänge verkraften (315.000 Mitglieder/ Beitragssatz 13,9 Prozent). Die Techniker Krankenkasse verlor zwar 18.000 Mitglieder, gewann aber zugleich 31.500 dazu (228.500/ 13,2 Prozent).

Die BKK Berlin, bei der die meisten Beschäftigten des öffentlichen Dienstes versichert sind (145.00 Mitglieder), hat dagegen nicht nur einen hohen Satz (15,3 Prozent) und 7.000 Mitglieder verloren, sondern ist zudem mit 300 Millionen Mark verschuldet – der Zusammenschluß mit der Stuttgarter BKK Post, die mit der Fusion zum Branchenprimus aufgestiegen wäre, scheiterte unlängst am Widerstand der BKK-Konkurrenten. Jetzt soll die BKK Berlin in den kommenden fünf Jahren vom BKK-Bundesverband jährlich 40 Millionen Mark erhalten. „Bei uns sind aber auch viele mit hohen Risiken versichert, beispielsweise über 30jährige Männer, die bei den Wasserbetrieben in der Kanalisation arbeiten“, sagt BKK Berlin- Pressesprecherin Almut Veit.

Veit spricht damit einen wunden Punkt des „Risikostrukturausgleichs“ an. Dieser kassenübergreifende Umverteilungstopf war zusammen mit der freien Kassenwahl eingeführt worden, um gleiche Startchancen für alle Kassen im Wettbewerb zu gewährleisten. Zum Ausgleich der unterschiedlichen Risiken wurde für jedes Mitglied nach Alter, Geschlecht und weiteren Kriterien ein Beitragsbedarf festgelegt. Eigentlich sollten die Kassen mit ungewöhnlich vielen krankheitsanfälligen Mitgliedern wie die AOK mehr erhalten als Konkurrenten mit jungen, gutverdienenden Beitragszahlern. Doch die dazu berechneten statistischen Durchschnittsgrößen bilden die Realität nur mangelhaft ab: So hat etwa ein Bankangestellter eine gesündere Arbeit als ein gleichaltriger Lagerarbeiter.

Vor allem einige Betriebskrankenkassen haben sich seit 1996 auf eine exklusive Klientel spezialisiert. Meist sind die BKKs nur telefonisch an ihrem Stammsitz zu erreichen; sie haben keine bundesweiten Geschäftsstellen und daher häufig auch geringere Verwaltungskosten, was sie in niedrige Beitragssätze umsetzen. Zudem können die Mutterbetriebe die Personalkosten übernehmen – und diese wiederum steuermindernd absetzen. Die BKKs kämen „den Bedürfnissen junger, mobiler Zielgruppen entgegen“, beschwerte sich vor kurzem Hansjoachim Fruschki, der Vorsitzende der Deutschen Angestellten-Krankenkassen. „Statt auf Solidarität setzen sie auf Individualisierung, auf einen Wettbewerb um Gesunde.“ Als etwa die BKK Verkehrsbau-Union 1993 startete, waren unter den rund 550 Mitgliedern nur drei Rentner. Heute sind schon 66.200 Berliner bei der BKK VBU versichert (Beitragssatz 11,9 Prozent). Doch über kurz oder lang, hofft zumindest AOK-Sprecherin Rähse, würden sich über die Mitgliederbewegungen die Versichertenstrukturen anpassen – und damit auch die Höhe der Beitragssätze. Ole Schulz