"Die Leute tragen Autos"

■ Die Ausstellung "Avantgarderobe" in Wolfsburg feiert einen übersehenen Schauplatz der Kunstgeschichte: das theatralische Kleid, seine Ideengeschichte, seine Performance. Ein Gespräch mit Kurator Peter Wollen über

Die große Halle des Kunstmuseums Wolfsburg ist verwandelt in eine gigantische Kleiderkammer. In die grün leuchtende Zickzackarchitektur wurden Unmengen von Vitrinen aus Plexiglas eingelassen, in denen die Kleidung dekliniert wird: das Kleid, der Schuh, der Hut. Das Passagen-Ambiente wird ergänzt durch einen schwarzen Laufsteg, der über Kopfhöhe exzeptionelle Kostüme und Anziehsachen zeigt, von Oskar Schlemmers Drahtfigur für „Das Triadische Ballett“ (1922, in einer Rekonstruktion) bis zu den Beulenkleidern aus der Kollektion von Comme des Garçons vor zwei Jahren. Das spektakulärste Stück ist gewiß das „Hochzeitskleid“ von Christo (1967): die verschnürte Braut schleift anstelle einer Schleppe eine gigantische Mitgift mit sich; das ganze Vorleben, akkurat verpackt zu einem weißlich schimmernden Paket. Nicht zu übersehen die kleinen Sachen: Balenciagas kelchartiger Damenhut, dessen Volumen auf Pferdehaar ruht, von 1962, geliehen aus der Texas Fashion Collection der Universität von Nordtexas. Und das Lieblingsstück des Kritikers: Harry Gordons blaues Papierplakat-Minikleid von 1968, das in übertriebener Rasterung ein gigantisches weibliches Auge zeigt.

Die Gigantesse der Ausstellung – begleitet von einem schmalen Katalog (neueste Mode!) – kann nicht darüber wegtäuschen, daß aus dem riesigen Komplex von moderner Kunst und moderner Mode nur ein schmales Scheibchen geschnitten wurde. Peter Wollen, der Kurator, ignoriert ganze Kapitel kanonischer Kunst und kümmert sich auch nicht um die Verschiebung von der Haute Couture zum Prêt-à-porter. Er öffnet statt dessen einen ungesehenen Schauplatz: den des Kunstkleids zwischen Experiment und Theater. Entworfen für die Hayward Gallery in London unter dem Titel „Addressing the Century – 100 Years of Art & Fashion“, wurde die Ausstellung unter dem einleuchtenden Schlagwort „Avantgarderobe“ nach Wolfsburg übernommen. Die Ausstellung ist bis zum 6.Juni zu sehen. Sie wird begleitet von einer Sonderschau der Modeklasse von Vivienne Westwood an der HdK Berlin (mit Modenschau am 19. März um 16, 20 und 23 Uhr) und einer Sondernummer der deutschen „Vogue“ im April.

Peter Wollen, geboren 1938, ist Professor für Film und Fernsehen an der University of California in Los Angeles (UCLA). Sein letztes Buch heißt „Visual Display, Culture Beyond Appearances“, New Press 1999. uez

taz: Wir sehen hier eine Ausstellung vor uns, die von diesem Jahrhundert handelt. „Avantgarderobe“ hat offensichtlich mit Kunst und mit Mode zu tun, aber weder das eine noch das andere scheint das Thema zu sein.

Peter Wollen: Vor allem gibt es Kleidung zu sehen. Manche dieser Kleider stammen aus der Welt der Kunst, die anderen aus der Welt der Mode. Das Ziel ist, Vergleiche und Verbindungen zu ziehen, was den Gebrauch von Bekleidung in beiden Welten betrifft.

Wie ist es zu erklären, daß das Ballett und das Bühnenkostüm in den 20er Jahren wichtig werden und dann nie wiederauftauchen?

Sie tauchen schon wieder auf, nämlich in der Performancekunst. Denken sie an Atsuko Tanakas „elektrisches Kleid“ von 1956. Es gibt ein Video, das sie darin zeigt. Es ist nicht Theater, aber doch geht es um das Bühnenkostüm – theatralische Kleidung. Die Kunstkleidung tragen die Künstler selbst.

Es gibt im Katalog keine Biographien...

...Leider nicht...

...so daß man raten muß, wer zur Kunst gehört und wer zur Mode. Tanaka aber ist eine japanische...

... Künstlerin. Die Performance war eine mächtige Angelegenheit mit der Gruppe Gutai. Tanaka entwarf ihre eigenen Kostüme, und daß sie eine Frau war, mag dabei eine Rolle gespielt haben. Dieses Kleid ist mit bunten elektrischen Lichtern dekoriert, die sich während der Performance anschalten.

Mode fand in diesem Jahrhundert in bestimmten Zentren statt. Das war vor allem Paris, dann auch London. Hat die Tatsache, daß sich die Modemetropolen verlagert haben, bei Ihrer Recherche eine Rolle gespielt?

Ja. Fast das ganze Jahrhundert lang hat Paris die Modewelt dominiert. Wir sprechen jetzt auch von Mailand, London und Tokio. Der Wandel zeigt sich in den sechziger Jahren an. Seitdem entwickelt sich die Welt der Mode polyzentrisch. Und wahrscheinlich bleibt Paris deren Hauptstadt – nur ist Paris globaler geworden, wie alles andere auch.

Dreht sich Ihre Kunstkleidung denn um die Kunstzentren, oder ist sie unabhängig?

Solange Paris nicht nur die Hauptstadt der Mode, sondern auch die Hauptstadt der Kunst war, fielen sie leicht in eins. Sie waren nicht nur geographisch, sondern auch kulturell verbunden.

Bärtige Mannequins, die Zeichnung eines Huts, montiert aus Pumps: Machen sich Künstler über die Modemacher lustig?

Nein! Nicht wenige Künstler wurden von Modemachern finanziell gestützt. Der erste Besitzer von Picassos „Desmoiselles d'Avignon“ war Jacques Doucet. Paul Poiret, von dem in dieser Ausstellung viel zu sehen ist, besaß eine Sammlung kubistischer Malerei und Fauve. Elsa Schiaparelli beschäftigte Leute wie Dali, Man Ray und Meret Oppenheim.

Konnten diese KünstlerInnen sich im Ernst nützlich machen?

Durch Entwürfe oder Grundlagen für Entwürfe. Der Schuh-Hut, zum Beispiel, ist ein berühmter Schiaparelli-Hut. Aber die erste Zeichnung stammt von Salvador Dali. Der wußte natürlich nicht, wie man wirklich einen Hut macht. Sie schon.

Ein zentraler Platz in Ihrem System der Avantgarderobe gehört Paul Poiret. Können Sie seine Rolle beschreiben?

Er hat die französische Mode transformiert. Er schrieb es sich zu, das Korsett abgeschafft zu haben – die Silhouette des 19. Jahrhunderts. Er wollte fließendere Kleider haben, die in einem natürlicheren Verhältnis zum weiblichen Körper standen. Dafür nahm er einen Rückgriff vor auf die französische Mode unter dem Directoire...

...Mehr als hundert Jahre zuvor...

...die selbst aber ein Revival klassischer, griechischer Kleidung gewesen war. So war Poiret sowohl historizistisch als auch revolutionär. Es war auch seine Erfindung, Parfüms sein Etikett aufzukleben, ein Trend, der jetzt die Modewelt dominiert.

Zuvor hatte es Parfümhersteller und Schneider gegeben.

Genau. Poiret versuchte sich auch in einem Fach, das man jetzt Innenarchitektur nennen würde. Und nicht zu vergessen: Er erfand das Model, indem er seine Kleider am Rande der Rennbahn vorführen ließ, was wiederum gefilmt wurde. Er nahm das Berufsbild des fashion designer vorweg.

Wenn man auf das Gewerbe des ersten Jahrzehnts zurückblickt, sieht man die vereinfachende Tendenz der Lebensreform, und auf der anderen Seite ein sehr lebhaftes Dekor, das aus dem Jugendstil kommt. Sind diese Tendenzen verwandt, oder stehen sie im Wettbewerb miteinander? Bei dem kleinen Foto von Gustav Klimt und seiner Frau fiel mir auf, daß er mehr nach dem klassischen Revival aussieht – Lebensreform – und sie nach Jugendstil.

Er war Künstler, sie war Modemacherin. Das könnte ein Teil einer Antwort sein. Poiret wußte eine Lösung. Er hat sich für persische, für orientale Kleidung interessiert. Da fand er Kleider, die lose waren – und das wollte er ja – und gleichzeitig dekorativ. Das gleiche gilt für Henri Matisse, der sich für nahöstliche Kunst interessierte, aber auch für die Kleidung. Man sieht die Verbindung in seinen Gemälden. Und für das Russische Ballett in Paris gilt dasselbe.

Man sieht hier wunderbare Blätter aus einem „Journal des Dames et des Modes“. Wenn es heißt, „dessin de Bakst“, ist Léon Bakst dann der Modezeichner oder der Modemacher?

Es ist eine Zeichnung für die eigene Kollektion. Bakst entwarf die Kostüme für das Russische Ballett und gleichzeitig Mode, die als couture verkauft wurde.

Ist der unvermeidbare Leitfaden einer Show wie dieser das Kleid in aberwitzigen Varianten?

Darauf hatte es die Modewelt definitiv abgesehen.

Gilt für Künstler das gleiche?

Weniger. Fast die gesamte Männerkleidung dieser Ausstellung geht auf Künstler zurück: Rodtschenko, Leger, Komar und Melamid, John Armleder. Auch die Tuta (1919), ein zweigeschlechtlicher Anzug, ist von Thayaht, einem Künstler, der Madeleine Vionnet – einer Designerin – zugearbeitet hat. In der Modewelt galt lange: Designer arbeiten für Frauen, und für Männer arbeiten Schneider.

Was ist Ihr persönliches Interesse an der Avantgarderobe?

Die prägende Zeit für mich waren die sechziger Jahre. Bis dahin war Mode für die Elite dagewesen. So wie Norman Hartnell, der Kleider für die Queen entwarf. Plötzlich gab es Mode für alle. Es war das erste Mal, daß England, wo ich herkomme, daß London für Modemacher eine akzeptable Stadt wurde. Und ich gehörte zu der Generation, die gemeint war. Dann, später, habe ich mich gefragt, wie es passieren konnte, daß das Dekorative in der Kunstwelt als negativ angesehen wurde. Das Dekorative wurde „zweite Klasse“ im Vergleich zu „echter Kunst“. Das hat mich zu Henri Matisse geführt und zu Raoul Dufy, ein Künstler, der mit Paul Poiret gearbeitet hat. Warum, fragte ich mich, wurde die Verbindung von Kunst und Mode schließlich unter den Teppich gekehrt?

Von wem?

Den Kunsthistorikern.

Und der Aspekt der Avantgarde ist, daß man diese Sachen nicht tragen kann?

Man kann das alles tragen, und es ist getragen worden. Aber das meiste geht über den Alltagsgeschmack hinaus: ein Kleid, das ausschließlich aus Gummibändern besteht oder aus gewebtem Stahl. Wenn man das hört, denkt man an Rüstung, aber wenn man es sieht, ist es regelrecht zerknittert. Das habe ich erst im Laufe meiner Recherche gemerkt: daß das Material die größte Herausforderung ist. Kleidung aus Papier, Kleidung aus Haar, aus Porzellan.

Deshalb ist es auch kein Problem, dem technologischen Wandel zu folgen?

Die Designer werden sofort nach dem Neuen greifen.

Sie leben seit ein paar Jahren in Los Angeles. Gibt es da eigentlich so etwas wie eine Straßenmode?

Eine Strandmode, vielleicht. Ansonsten tragen die Leute in Los Angeles Autos.

Sie tragen Autos?

Sie hüllen sich in Autos. Da bleibt der ganze Aufwand. Dann gibt es die Oscars, und plötzlich werden all diese unglaublich teuren Sachen gekauft. Wenn 300 Millionen Leute zugucken, wird die Mode global, was keine Garantie für Geschmack ist. Interview: Ulf Erdmann Ziegler