Die Macht, sie hat Namen und Gesicht

■ Vom Nutzen Shakespeares anläßlich des plötzlichen Verschwindens Oskar Lafontaines

„Die Macht hat alles Shakespearehafte eingebüßt.“ So resümierte der polnische Autor Adam Zagejewski die trostlose Szenerie im Polen der 80er Jahre. Und die Klage des Dramatikers, traf sie nicht in noch viel schärferer Form auf das politische Leben in den parlamentarischen Demokratien des Westens zu? Wo haderte noch ein Staatsmann mit sich und der Welt wie der arme König Richard II. nach dem Verlust der Krone, um zum Schluß, in tiefster Machtlosigkeit, zu einer großartigen Apotheose königlicher Macht zurückzufinden? Wo blühte noch Verschwörung und Verrat, wo konnte man noch die lapidare Regieanweisung lesen „Enter three murderers“ oder die Zeitbestimmung „Vier Uhr nachts“, die absolut nichts Gutes verhieß?

Waren die schrecklichen Zeiten nicht Gott sei Dank endgültig vorbei, die der große Shakespeare- Kenner Jan Kott, auch er ein Pole, in drei Sätzen zusammengefaßt hatte: Die einen machen Geschichte und fallen ihr zum Opfer. Die anderen glauben, Geschichte zu machen, und fallen ihr zum Opfer. Die Dritten machen keine Geschichte und fallen ihr zum Opfer?

Gerade haben wir, Anhänger der Bürgergesellschaft und Künder eines zwar langwierigen, aber desto wohltätigeren Prozesses demokratischer Zivilisierung, den noblen Abgang Helmut Kohls von der Königsebene beklatscht. Und nun dies: Fernab aller Öffentlichkeit wird eine Intrige zum Sturz des mächtigen Barons La Fontaine de la Sarre gesponnen. Im Kronrat kommt es zum Eklat, der König droht – eine Finte! – mit Abdankung, falls die Magnaten, seine Freunde, nicht von der Kopfsteuer ausgenommen werden. La Fontaine sieht sich von den seinen verlassen. Er eilt auf seine Güter zurück. Umgeben von wenigen Getreuen, entsagt er (vom Mittwoch zum Donnerstag, um vier Uhr nachts!) allen Ämtern. Vorhang, Ende des ersten Akts.

Lernten wir nicht, daß die Macht sich heutzutage in Dispositiven verbirgt, in den Disziplinen des Wissens und der rationalen Herrschaftsausübung? Daß sie ihre Individualität verloren hat? Werch ein Illtum! Macht wie Ohnmacht, Treue wie Verrat, sie haben Namen und Gesichter. Und welche! Die der Paladine, die, teils stockend, teils gewandt, die Nachrufe auf den noch lebenden Oskar herunterhaspeln. Und das Gesicht des Kanzlers. Steinern, gefaßt die Miene, verkündet der Schurke kurz und bündig dem Publikum, eigentlich sei gar nichts passiert und binnen 24 Stunden würden alle Nachfolgeprobleme gelöst. Wir, die Millionen Shakespeare-Fans, wissen natürlich, am Schluß des Dramas wird ihn die Hybris ereilen, und das Rad der Fortuna wird über ihn hinwegrollen.

Jetzt fällt uns wieder das Drama aus dem Jahr des Herrn 1974 ein und damit die Szene aus dem vorletzten Akt. Sie spielt in Bad Münstereifel, fernab von London und dem königlichen Parlament. Willy Brandt, bedrängt vom Erzverräter Lord Warwick in der Rolle Herbert Wehners, schmeißt die Brocken und entsagt der Krone. Dieweil sein Nachfolger, Herr Schmidt, fernab in den Vereinigten Staaten weilend, von nichts gehört und nichts gesehen hat. Erich Honecker, König von Frankreich und von zweifelhafter Legitimität, ist bestürzt. Das hat er nicht gewollt, als er den Verräter Guillaume in die Umgebung des Monarchen schleuste. Zu spät! Die Arbeit des Spions hat sich – auch dies ein shakespearisches Motiv – gegen seine Auftraggeber gewendet. Den treuen Dienern Brandts aber bleiben nur die Tränen – und weitermachen bis zum bitteren Ende der Dynastie.

Oh, that Shakespearian rag! Wie schal die Turbulenzen in Casdorfs Richard II., zu sehen derzeit im Berliner Prater, gegenüber diesem um so viel grandioseren, Gemüt wie Verstand erhebenden Inszenierung. Und welche Lehren hält schon nach dem ersten Akt das Drama für uns bereit. Zum Beispiel diese: Zwar bestimmt die Ökonomie unser aller Geschick, aber es sind doch die Menschen, die Geschichte machen. Christian Semler