Das Bündnis für Steuervermeidung

■ In Deutschland sind die Unternehmensteuern zu hoch, heißt es überall. Doch ein genauer Blick zeigt: Das Gegenteil ist der Fall

Sie haben gewonnen. Der Dax hat einen Sprung gemacht, und eine ganze Messe voller Kunst- und Antiquitätenhändler hat minutenlang applaudiert. Die Freude war berechtigt. Denn zum ersten Mal seit fast zwanzig Jahren gab es für kurze Zeit einen Finanzminister, der sich zu einem ernstzunehmenden Kontrolleur von Unternehmen hätte entwickeln können. Diese Chance ist zunächst vertan, weil Gerhard Schröder nach einem durchaus zahmen Gesetzentwurf das Ende der Belastbarkeit der Wirtschaft verkündete.

Dabei wäre es für eine Reformregierung überlebensnotwendig, im Haushaltsbereich einen selbstbewußten Gegenpol zur machtvollen Interessenpolitik der Wirtschaft zu bilden. Weil es hier direkt ums Geld geht, und zwar um viel Geld, wird die Frage der Steuerbelastung zum ideologischen Schlachtfeld, in dem mit Halbwahrheiten und gezielter Desinformation Politik gemacht wird.

Das beginnt erstens schon mit der einfachsten Information, der Nennung der Steuersätze. Jede etwa vom BDI verbreitete Liste zeigt angeblich unwiderlegbar, daß Deutschland den höchsten Steuersatz unter den westlichen Industrieländern aufweist.

Unwiderlegbar? Nein. Denn Staaten pflegen ganz unterschiedliche Systeme der Integration von Unternehmensteuern und privaten Einkommensteuern. In vielen Ländern – z.B. im hochgelobten Holland, aber auch in der soliden Schweiz oder in den erzkapitalistischen USA – wird doppelt besteuert. Erst zahlt die Firma eine Steuer auf den Gewinn, dann der Privathaushalt eine weitere auf die empfangene Dividende. In Deutschland dagegen wird die gezahlte Gewinnsteuer auf die spätere Einkommensteuer von Haushalten angerechnet. Hier entrichten Personen keinen zweiten Obolus, sondern bekommen günstigenfalls sogar eine Steuerrückzahlung. Ein seriöser internationaler Vergleich muß deshalb beide Ebenen kombiniert betrachten. Andernfalls wäre es, als würde man zwei Restaurantbesuche – einmal mit Wein und einmal ohne – gegenüberstellen und dann das vermeintlich günstigere Etablissement als vorbildlich loben.

Die OECD hat Anfang der 90er beide Ebenen in einer sehr umfangreichen Studie berücksichtigt. Das Ergebnis war frappierend: Deutschland gehörte für Eigentümer von gewerblichen Unternehmen zu den steuergünstigsten Standorten überhaupt. Vielleicht wird jetzt klarer, warum bei der Fusion von Chrysler und Daimler die BRD und nicht die USA zum neuen Konzernsitz wurde.

Darüber hinaus gibt es zweitens die deutsche Besonderheit exorbitanter Rückstellungen, die in dem erwähnten OECD-Vergleich noch gar nicht berücksichtigt wurden. Rückstellungen sind auf Zeit steuerbefreite Rücklagen für zukünftige Ausgaben. Solange diese nicht gebraucht oder wieder in Gewinn rückverbucht werden, stehen sie dem Unternehmen zum Teil für Jahrzehnte zu beliebigen Verwendungszwecken zur Verfügung.

Das Steuerrecht vieler anderer Länder kennt solche Möglichkeiten gar nicht. Für Deutschlands Gewerbe dagegen nennt die Bundesbank eine Summe von nicht weniger als 691 Milliarden Mark aufgelaufene Rückstellungen, für die bisher keine Mark Gewinnsteuer in die öffentlichen Kassen floß. Zum Vergleich: Der Nettowert aller Sachanlagen, also des gesamten Maschinenparks und der Gebäude, lag mit 758 Milliarden Mark nur noch wenig darüber.

Exzessive Rückstellungen und einige andere Merkwürdigkeiten im deutschen Steuerrecht haben dazu geführt, daß der Anteil der Steuern von Kapitalgesellschaften real immer weiter sinkt. Und dies nur in Deutschland, trotz angeblicher Globalisierung nicht etwa in den anderen westlichen Ländern.

Betrugen 1965 die Einnahmen solcher Steuern im Verhältnis zum Sozialprodukt im Durchschnitt der OECD 2,2 Prozent und in Deutschland 2,5 Prozent, stiegen sie 1996 in der OECD auf 3,1 Prozent; sie sanken dagegen in Deutschland auf kümmerliche 1,4 Prozent. Im dritten Jahr hintereinander ist Deutschland damit für Kapitalgesellschaften nach Island der günstigste Steuerstandort.

Hier geht es nicht um Peanuts. Hätte Deutschland die gleiche Steuerbelastung wie der Durchschnitt der 24 OECD-Mitgliedsländer, dürften sich die Finanzminister in Bund und Ländern auf gut 60 Milliarden Mark zusätzlicher Einnahmen freuen, jährlich natürlich. Damit ließe sich auch ganz ohne Bündnis manche Arbeitsmarktmaßnahme, ganz ohne Konsens manche Ausstiegspolitik, ganz ohne Mehrwertsteuererhöhung manche nötige Infrastrukturmaßnahme finanzieren.

Drittens bedeutet die Fortführung dieser Politik eine Bevorzugung großer Unternehmen. Die Unterlagen der Bundesbank zeigen, daß vor allem die Großen von der Rückstellung profitieren. So nennt etwa die hochkonzentrierte Energie- und Wasserwirtschaft einen Bestand von 119 Milliarden Mark an Rückstellungen ihr eigen, mit dem sie steuersubventioniert Unternehmen aufkauft oder neue Märkte, etwa im Kommunikationsbereich, besetzt. Zusätzliche Arbeitsplätze haben in der Vergangenheit aber vor allem kleinere Firmen geschaffen.

Und wie steht es mit der Hoffnung, daß eine niedrige Steuerbelastung generell für mehr Investitionstätigkeit sorgt? Die Öffentlichkeit glaubt's unverdrossen, die Experten wissen's besser. Denn dieser Zusammenhang ist empirisch nicht belegt. Die gesparten Steuern können etwa genausogut in ausländische Finanzanlagen fließen. Anfang der 90er wurden 500 amerikanische Ökonomieprofessoren befragt, ob Steuererleichterungen bei Unternehmensgewinnen zu höherem Wachstum führten. Nur jeder fünfte schloß sich dieser These an, die Hälfte lehnte sie eindeutig ab, der Rest war unentschieden. Die Medien sehen das umgekehrt. Genau die gleiche Frage wurde auch Journalisten gestellt. Bei diesen zweifelten nur halb so viele am Nutzen einer Steuersenkungspolitik für Firmen.

So blieb in der Öffentlichkeit unvermittelt, daß Lafontaine gute Gründe für seine Politik hatte. Schröder dagegen setzt alles darauf, sich das Wohlwollen der Wirtschaft zu erhalten, und hofft auf Gegenleistungen. Das Risiko eines Fehlschlags ist hoch. Bitter dann für die Arbeitslosen, die meisten Steuerzahler und nicht ohne Gefahr für den Kanzler. Seine eigene Erfolgsmeßlatte ist ein deutliches Absenken der Arbeitslosigkeit. Wenn Mitte der Legislaturperiode diese Zahl nicht auf eine schmale Drei zuläuft, dürfte die SPD auf den Gedanken kommen, sich nach Oskar Lafontaine zurückzusehnen. Gerd Grözinger