Frau Holle heißt jetzt FA 2000

Die Schweizer Skiorte setzen ganz auf „Bio-Schnee“ – zu deutsch: Kunstschnee. Naturschützer bezweifeln die Harmlosigkeit der Bakterienzusätze  ■ Aus Grindelwald Louis Posern

Frau Holle hat ihren Namen geändert. Die gute Frau heißt jetzt „FA 2000“, wiegt knapp 800 Kilo und ist medikamentenabhängig. Snowmax heißt das Präparat, das sie braucht. Vorbei die romantischen Zeiten, da der Schnee leise vom Himmel auf die Alpenwiesen rieselte. Nachts dröhnen die Turbinen in den Bergen, die Wintersportorte haben sich ihre eigene Frau Holle gekauft. Schneekanonen stehen entlang der Pisten in jedem größeren Schweizer Wintersportort. Mit chemischen Zusätzen wie Snowmax wird der Kunstschnee aufgepäppelt. Die Angst vor schneelosen Hängen und damit leeren Hotelbetten ist stärker als die Sorge um Alpenwiesen.

Geschneit hat es das letzte Mal vor zwei Wochen. Und doch sind die Hänge weiß im Skigebiet der Jungfrau-Region oberhalb Grindelwalds im Berner Oberland. Es kratzt bei jedem Schwung, den der Mann von der Pistenwacht fährt. Der Untergrund ist knochenhart, eine einzige Eisplatte. Kunstschnee vereist eben schneller als natürlicher.

Neben der Piste stehen die stählernen Turbinen, die Nacht für Nacht Wasser aufsaugen und vorne kubikmeterweise Kunstschnee hinauspusten. Jede Turbine hat fast die Kraft eines Kleinwagens, gut 30 PS. Bis zu 600 Liter Wasser verbraucht eine Maschine pro Minute – das macht den Schnee aus der Kanone teuer. Im Schnitt kostet der Bau einer Anlage, mit der man einen Kilometer Piste beschneien kann, eine Million Franken. Hinzu kommen Betriebskosten von rund 30.000 Franken pro Kilometer in jeder Saison.

Manchmal packt die Planer der Größenwahn. So wie kürzlich in Wengen, das sich für zehn Millionen Franken eine Beschneiungsanlage samt zugehörigem Stausee spendiert hat. Die Zielarena der berühmten Lauberhorn-Abfahrt liegt wenige Kilometer von Grindelwald entfernt. Schneesicher muß es dort sein. In den achtziger Jahren wurden die Rennen immer wieder abgesagt: Schneemangel. Also wurde eine Beschneiungsanlage gebaut inklusive eines Stausees. Der ist zur Zeit leer, das Wasser liegt in Form von Kunstschnee auf der Abfahrtsstrecke vom Lauberhorn hinunter nach Wengen.

Im Herbst 1998 wurde die Anlage eingeweiht, kurz darauf kamen die Inspektoren des Berner Wasserwirtschaftsamtes und maßen den Stausee nach. Statt 10.000 Quadratmeter ist er 12.000 groß geworden. Nun besteht die Befürchtung, daß der Stausee der zu großen Wassermenge nicht gewachsen ist und der Damm brechen könnte. Die Trasse der Zahnradbahn zur Kleinen Scheidegg wäre dann weg und der kleine Ort Lauterbrunnen ebenfalls bedroht.

„Das ist keine Schlaumeierei mehr, das ist Betrug“, schimpft Hans Fritschi, einer der aktivsten Gegner gegen den Kunstschnee. „Noch am Ende der 80er Jahre hat die Jungfrau-Region mit hundert Prozent Naturschnee geworben“, erinnert er sich. Heute wirbt die Region mit sogenanntem Bio- Schnee, ein Wort, bei dem der Naturschützer beinahe die Fassung verliert. „Bio“ bedeutet nämlich, daß dem Kunstschnee biologisches Material beigemischt wird, das Produkt Snowmax. Abgetötete Bakterien werden im Innern der Schneekanone in den kalten Wasserstrahl eingespritzt, die Proteine der toten Bakterien sorgen dafür, daß das Wasser schneller kristallisiert. Die Schneemeister können die Pumpen bereits bei minus drei Grad Celsius statt erst bei minus sechs anstellen.

Der Hersteller behauptet zwar, daß Snowmax völlig harmlos sei, was die Naturschutzstiftung Pro Natura anzweifelt. Sind wirklich alle Bakterien tot? Die Stiftung will das nicht glauben. Das Umweltamt in Bern hat den Schneezusatz genehmigt, ohne einen Freilandversuch gemacht zu haben. Auch hat sie Bedenken, weil mit Snowmax länger und öfter beschneit werden kann. Dies bedeutet mehr Wasser auf den Hängen, das im Frühjahr ins Tal fließt. Die Alpenwiesen leiden, das Wasser gräbt sich seinen Weg durch die Erde. Es bleiben Furchen, die immer tiefer werden.

Die Skitouristen machen sich darüber wenig Gedanken. Das holländische Ehepaar Molendejk war 1990 schon mal in Grindelwald in Ferien. Damals waren die Hänge grün, auf der einzigen befahrbaren Piste drängten sich die Skifahrer auf matschigem Schnee. Jetzt sind sie wieder gekommen, weil sie gelesen hatten, daß das Skigebiet beschneit wird. „Wir kommen doch nicht zum Wandern hierher.“ Und außerdem schütze der Kunstschnee die Wiesen.

Das bekommen Hans Fritschi und seine Mitstreiter immer öfter zu hören. Niemand will hören, daß die Alpenblumen durch die Klimaerwärmung schon viel früher zu treiben beginnen und der Kunstschnee sie dann erdrückt. Niemand interessiert sich für die „Wunden“, die erst im Sommer auf den Berghängen zu sehen sind. 85 Prozent des Umsatzes machen die Bergbahnen eben im Winter. „Im Sommer laufen viele völlig unrentabel“, sagt Andreas Staeger, Sprecher der Schweizer Bergbahnen. „Die Wintersportgäste spülen das Geld in die Kassen.“

Die Naturschützer haben es schwer, wenn es gegen die Interessen des Tourismus geht. Dabei lehnen sie Schneekanonen nicht prinzipiell ab. Allerdings sollen die Kanonen nur an wenigen Stellen stehen, am besten dort, wo der Naturschnee schnell schmilzt – zum Schutz der Wiesen.

„Der schlimmste Winter war für uns 89/90“, mahnt dagegen Jo Luggen, Vizedirektor vom Tourismusverband Grindelwald. Um 30 Prozent sanken die Belegungszahlen damals. Hätte man schon beschneit, wären die vielen Absagen der gebuchten Ferienwohnungen und Hotelzimmer sicher ausgeblieben. „Winterferien ohne Schnee ist wie Badeurlaub ohne Wasser“, sagt Jo Luggen.

Und schließlich schläft auch die Konkurrenz, etwa in Österreich und Frankreich, nicht. „Die haben einen gewaltigen Vorsprung, was die Beschneiung angeht“, sagt Bergbahnensprecher Staeger. Der östliche Nachbar bläst auf 20 Prozent der Skihänge Kunstschnee. In der Schweiz sind es erst 4,5 Prozent der 220 Quadratkilometer Pistenlandschaft. Laut Staeger soll der Anteil möglichst bald auf sieben Prozent erhöht werden.

Seit sogar das Helikopter-Skiing in Kanada und den USA erschwinglich geworden ist, starten Schweizer Tourismusmanager immer wieder neue Projekte. Jüngste Idee: Im Tessin, der Sonnenterrasse der Eidgenossen, wollen die Tourismusdirektoren Schneekanonen auffahren lassen. Im wärmsten Teil der Schweiz liegt zwar selbst in guten Wintern kaum Schnee. Aber dafür gibt es ja „FA 2000“ – die Frau Holle des 20. Jahrhunderts.