Örtlich betäubt

Wenn sie nichts sagen will, dann sagt sie nichts: Christa Wolf wird morgen Siebzig und blickt ohne Zorn und Aufregung zurück auf die Kämpfe um ihre Person  ■ Von Frauke Meyer-Gosau

DDR-Literatur? Hat es die gegeben? „Literatur“, hieß es gleich nach der „Wende“ – ja, die gab und gibt es immer! Und auch Nicht-„Literatur“, natürlich, und zwar die Menge, ganz schauderhaft! Aber DDR-Literatur? Fehlanzeige, nicht bei uns: „Deutsche Literatur“ lautete der Bezugsrahmen von nun an. Worauf das Feuilleton-Scherbengericht, munter sezierend und schön nach und nach, die Guten der real nicht mehr existierenden Spezies ins Töpfchen, die Schlechten ins Kröpfchen sortieren konnte. „Was bleibt“, hieß die Frage. Christa Wolf hatte sie gestellt.

Zwar war das gar keine Frage gewesen, sondern der Titel einer 1990 erschienenen Erzählung (ohne Satzzeichen). Und der hatte sich auch gar nicht speziell auf die Literatur, sondern auf die DDR als Staatsganzes und Lebensform bezogen. Daß es die bis vor kurzem noch gegeben hatte, das stand ja nun immerhin außer Frage. Aber gerade darum paßte der Titel ja auch so gräßlich genau in die Stimmung, und Christa Wolf selbst zählte konsequenterweise zu den ersten, bei denen der Daumen sich senkte: Mit dem Buch dieses Titels wurde sie als „Staatsdichterin“ enttarnt.

Natürlich hätte man sie warnen müssen – nicht nur vor der Überschrift, die sofort Grundsatzfragen aller Art aufrief. Sondern besonders vor der Veröffentlichung eines Manuskripts, dessen Vorform vom Ende der 70er Jahre stammte, das sie dann unter dem Eindruck der Ereignisse vom November 1989 eilig überarbeitet und in Druck gegeben hatte. Andererseits aber: Der Vorgang stand auch in einer Tradition, er war eine echte Christa-Wolf-Angelegenheit. Denn sprechende Titel mit einem weiten Assoziationsradius waren ihre Sache ja schon seit ihrem ersten Erfolgsbuch, dem „Geteilten Himmel“, gewesen. Und auch damals schon war es um eine (allerdings wohl abgewogene) Provokation der herrschenden Meinung gegangen, um den Versuch, mit den Mitteln der Literatur in einen gesellschaftlichen Prozeß einzugreifen, ihm eine Richtung zu geben und den LeserInnen eine andere Sicht auf die sie umgebende Welt.

Sie hat doch diesen Gerechtigkeitsfimmel

Danach ging es dann immer so weiter, fast dreißig Jahre lang, von Buch zu Buch, mit wachsendem Erfolg, bis Christa Wolf mit „Was bleibt“ jäh zum „Fall“ im westlichen Feuilleton wurde, einem Exempel, an dem sich studieren ließ, wie eine Diktatur in der Literatur die Sklavensprache etabliert und wie ehrgeizige DichterInnen sich deren Mechanismen bedienen, um damit vor allem ihren Schnitt zu machen: Ruhm, Privilegien, ein Made-im-Speck-Dasein mitsamt Reisevisa nach Lust und Laune, das alles auf den gebeugten Rücken unterdrückter Massen, die sie dafür dann auch noch bewunderten, weil ihnen ja sonst nichts blieb.

„Christa, eine von uns, die ausspricht, was wir nicht mal zu denken wagen.“ – „Eine aufgeklärte Gesellschaft kennt keine Priester- Schriftsteller“, donnerte dagegen der kriegsfreudige Feingeist Karl Heinz Bohrer und dekretierte, „was Literatur in einer säkularisierten Gesellschaft darstellt: keine Droge für Unterdrückte, kein quietistisches Labsal. Vielmehr verschärften Anspruch an imaginative Potenz.“ Und damit war es ja nun leider wohl nicht weit her bei den „traurigen Seelen“ des nunmehrigen Ex-Sozialismus: Christa Wolf ade. DDR-Literatur perdu, von Staats wegen (und zu Recht daher) miteinander untergegangen beide. Da blieb erst mal nichts.

Zehn Jahre später erscheint dies alles allerdings noch einmal anders. „Für Lob immer empfänglich. Aber wenn sie nichts sagen will dann sagt sie nichts da beißt du auf Granit Die Mutter Sie hat doch diesen Gerechtigkeitsfimmel“. Das kann man jetzt lesen in einer Erzählung namens „Im Stein“ in Christa Wolfs jüngstem Erzählungsband „Hierzulande Andernorts“, einer Art Lebensbilanz oder -reflexion, sozusagen unter örtlicher Betäubung, die Szene ist ein Operationssaal. Und wohl wahr: Wenn die nichts sagen will, dann sagt sie nichts, Christa Wolf hat sich rar gemacht in den letzten Jahren. Und das nicht nur, weil das so dringend erhoffte „Lob“ ausgeblieben ist. Denn natürlich war es so richtig wie falsch, sie weiland als Staatsdichterin zu schmähen. Richtig, weil nur ein diktatorisches Staatswesen wie das der DDR eine DichterInnen-Existenz ermöglichte, in der das sogenannte Leseland begierig aufmerkte, wenn die Mutter der Teil-Nation zu sprechen anhub. Falsch aber eben auch, weil, was Christa Wolf zu verkünden hatte, seit 1963 schon keineswegs die freudige Unterordnung empfahl.

Wie abscheulich ist das Private?

War Christa Wolfs „Moskauer Novelle“ von 1961 noch ein Prosastück ganz im Geiste der schuldbewußten deutsch-sowjetischen Freundschaft der fünfziger Jahre gewesen – vom DDR-Literatur- Zuchtmeister Alfred Kurella damals als „kleines Meisterwerk“ gepriesen, von Christa Wolf selbst 1974 als ein „Traktat im Sinne der Verbreitung frommer Ansichten“ beschämt abgestoßen –, so hatte schon der „Geteilte Himmel“ die kommunistische Funktionärs-Orthodoxie bloßgestellt und die Protagonistin an deren unlebbar schroffen Schwarz-Weiß- bzw. Rot-Braun-Alternativen fast zu Tode kommen lassen. Ein Erfahrungswert, dem ihr „Nachdenken über Christa T.“ weiter nachhing, und hier nun kam die Heldin der Erzählung am ungelebten kurzen Leben tatsächlich um – das „Nachdenken“ der Nachwelt war ihre einzige produktive Hinterlassenschaft.

„Kindheitsmuster“ wiederum war dann das Buch, das die antifaschistische Selbstideologisierung der DDR massiv in Zweifel zog, bis in die Schulerfahrungen der Töchter-Generation hinein. Christa Wolf trug es in der DDR den Vorwurf einer öffentlichen „psychotherapeutischen Ausräumung“ ein – und was konnte es weiland dort Abscheulicheres geben als die weitgehend ungeschützte Veröffentlichung des Privaten, einer Seelen-Not auch noch. Daß die Unterstellung einer Geschichtsklitterung geradezu verbrecherischen Ausmaßes hinzukam, verstand sich da fast von selbst.

Das war noch eben vor der Ausbürgerung von Wolf Biermann, danach änderte sich auch bei Christa Wolf der Ton: Wo vorher vorsichtiger Konfrontationsmut in verschiedenen Gegenwartsbezügen sich vorgewagt hatte, herrschte jetzt in „Kein Ort. Nirgends“ nur noch die Elegie, das dominierende Gefühl des Scheiterns, und darauf folgte ein noch weitergehendes Ausweichen in menschheitsgeschichtliche Entwürfe, die Umdeutung des „Kassandra“-Mythos. Adaptionen einer „Sklavensprache“, verbunden mit allzu durchschaubaren Übertragungen von DDR-Verhältnissen auf die innertrojanische Erosion einer ehedem menschenfreundlich-väterlichen Staatsmacht? Ja, zweifellos, alles das. Und die Erzählung „Störfall“ bot eine vor allem autobiographische Reaktion auf Tschernobyl, „Sommerstück“ ein Schönschreibe-Exempel für den stark melancholisierenden Genuß im allgemeinen Untergang: Mensch, Natur, Feuer. Sehnsucht, Ursprünglichkeit, Trauer. Und aus.

Anständige Maxime: anständig bleiben

Das ist unbestritten. Unbestritten aber ebenso, daß Christa Wolfs „Gerechtigkeitsfimmel“, ihr dringender, protestantischer Wunsch, die Welt zu bessern, von ihrem zweiten Buch an dazu geführt hat, Themen in der DDR-Literatur einzuführen, die den Herrschenden jeweils nicht einfach unangenehm, sondern für die Existenz ihres Systems geradezu bedrohlich erschienen. Das zeigten die teils heftigen Reaktionen staatlicher Agenturen auf die Bücher und auf die Autorin selbst, und die verehrungsseligen Zuneigungsgesten der Christa-Wolf-Gemeinde in der DDR belegten es noch einmal auf ihre Weise.

Die Nach-„Wende“-Diskussionen um Christa Wolf hat die Debatte dann allerdings um gerade diese Elemente verkürzt und um so schärfer hervorgehoben, wie der Ruhm der „Staatsdichterin“ aus den Mechanismen der Unterdrückung sein Zuspruchskapital geschlagen hat. Daß alle Fragen hier systemimmanent gestellt wurden, da der weite Horizont der ja doch nie aufgegebenen „sozialistischen Utopie“ auch die erschütterndsten Erkenntnisse noch – in wechselnder Beleuchtung – letztlich überglänzte, schien nun unverzeihlich. Und auch die Tatsache, daß es die Kandidatin des Zentralkomitees der SED, Christa Wolf, war, die anno 1965 als einzige unter den zahlreichen RednerInnen auf dem 11. Plenum Widerspruch einlegte gegen den Versuch, alle Elemente der Moderne zugunsten eines verkitscht-verlogenen „sozialistischen Realismus“ aus der Gegenwartskunst der DDR zu eliminieren, spielte hier keine Rolle mehr.

Vielmehr konnte man nun auf Zeitungsseiten lesen, wie sie im Neuen Deutschland den Einmarsch der Truppen des Warschauer Pakts in die Tschechowslowakei begrüßt und angeblich ihre Unterschrift unter die Petition für Wolf Biermann auf Druck der Staatsmacht zurückgezogen habe. Das Bild der ersten Sklavin ihres verrotteten Staates war schnell perfekt, und es fehlte nur, was sich dann ja schließlich auch noch einstellte: der Nachweis einer frühen Zusammenarbeit mit Mielkes miesen Mannen. Christa Wolf war „IM Margarethe“.

Gar keine Rolle spielte in all diesem Auf- und Abrechnen der enorme Zuspruch, den Christa Wolf mit ihren Büchern seit „Nachdenken über Christa T.“ auch im Westen gefunden hatte, keine die Preise und Ehrungen, die von dort ausgegangen waren, keine die früher auch hierzulande vorherrschende Feuilleton-Emphase für die utopiekonforme Dissidentin. Man kann sich leicht vorstellen, wie groß – bei allem natürlich weiter unvermindert anhaltenden Zuspruch der „Gemeinden“ in Ost und West – die Fallhöhe, wie schwer die Kränkung gewesen sein muß: wie schwer nämlich zu verstehen. Und dies zumal für jemanden, der sich Anfang der sechziger Jahre noch einmal die Maxime „anständig bleiben“ gegen alle Ansinnen und Invektiven eines Staates ins moralische Gedächtnis gerufen hatte.

Auch davon berichtet Christa Wolf in ihrem neuen Band „Hierzulande Andernorts“, dessen Titel ihre gegenwärtige Lage so präzise wie gerade möglich zu umreißen scheint. Man findet dort nicht nur Aufsätze über Weggefährten, Freunde, Kollegen, man sieht sie auch einmal versuchsweise hämisch, böse und ziemlich witzig in der Beschreibung einer amerikanischen Wüstenfahrt. Man liest in einem Text zu Christa Wolfs Kalifornien-Aufenthalt 1993/94, wie sie Tarot-Karten kauft und am Abend „fast nur Schwerter auf(deckt), Kampf, Unruhe, Wege übers Wasser in ruhigere Gegenden, ganz am Ende Rückzug aus der äußeren Welt“. Ein Dr. Kim rät ihr, regelmäßig zu meditieren, „dann würde ich mich gut kennenlernen und der beste Schriftsteller der Welt werden können, und ich konnte diesmal ehrlichen Herzens sagen, dies sei nicht mein Ziel“. Und, erstaunlich genug, das glaubt man ihr, der vormals ideell gesamtdeutschen Großschriftstellerin und „Staatsdichterin“ der DDR, aufs Wort, und das nicht nur, weil der Mutter- Satz immer noch zu stimmen scheint: „wenn sie nichts sagen will dann sagt sie nichts da beißt du auf Granit“. Denn man wird doch, wenn man die Jahre seit 1989 überschaut, das Gefühl nicht los, hier habe sich mittlerweile jemand aus der Szene, der er einmal mit höchstem Ruhm und allen Ehrenzeichen der Verfolgten angehörte, wirklich verabschiedet: ohne Zorn, ohne Aufregung, auf einem „Weg übers Wasser in ruhigere Gegenden“.

Während ihres Aufenthalts in Los Angeles arbeitete Christa Wolf an „Medea“, ihrem vorerst letzten Roman. Aus der Perspektive von 1999, die die Aufsätze und Texte in „Hierzulande Andernorts“ bündelt, scheint auch dieses Opus nun nicht mehr so wichtig zu sein. Denn insgesamt haben sich die Gewichte verschoben. Natürlich: Christa Wolf hat alle Bilder aufgenommen, die die Existenz ihres halben Landes bezeugten, und sich dabei zur Projektionsfläche für alle erdenklichen Ansprüche, Sehnsüchte, Hoffnungen und Feindschaften gemacht. Aber auch das ist nun, was sie selbst angeht, offenbar vorbei. Und das kann schließlich selbst den Feinden der früheren Verkündungstonart nur Respekt abnötigen: Hier gibt es (fast) keine Posen mehr, nur noch Abstand, zu fast allem. Many happy returns also, und auf das Leben nach dem Ableben der DDR- Literatur!

Christa Wolf: „Hierzulande Andernorts. Erzählungen und andere Texte 1994–98“. Luchterhand Literaturverlag, München 1999, 240 Seiten, 36 DM