■ Schlagloch
: Akzente in Aktion: Das Schipanski-Prinzip Von Nadja Klinger

„Ungeachtet der Sticheleien aus dem Unionslager hält Dagmar Schipanski an ihrer bisherigen Linie fest.“ Berliner Zeitung, 12.3.99

Dagmar Schipanski ist ein mehrfacher Akzent. So jedenfalls stellte sie Eberhard Diepgen vor Wochen vor, als sie überraschend Bundespräsidentschaftskandidatin der Christlichen Demokraten wurde. Die Berliner Parteifreunde staunten nicht schlecht, wo die Frau plötzlich herkam. Die breite Verwunderung allerdings tat da schon nichts mehr zur Sache, denn die Kandidatin war bereits ein Übergewicht. Ein raumfüllender, unbeweglicher Schwerpunkt. Ein politisches Prinzip: Überlegenheit durch Korpulenz.

Akzent Nummer eins ergibt sich aus der Natur der Sache und ist, unterstützt von geschlechtsspezifischer Kleidung, ganz gut zu erkennen: Schipanski steht für die Gleichberechtigung der Frau in der Gesellschaft. Akzent Nummer zwei ist ebenfalls mit Schicksal verbunden – mit einem leichten, da es sich mit etwas Begabung ganz gut vertuschen läßt: Die Ostdeutsche verkörpert das Zusammenwachsen unserer wiedervereinten Staaten. Mit Diepgens Akzent Nummer drei allerdings wird es schon schwieriger: Die Kandidatin repräsentiert die Modernisierung des Landes. Vermutlich hat das etwas mit Festkörperelektronik zu tun, wofür die Wissenschaftlerin seit 1990 eine Professur an der Technischen Universität Ilmenau hat? Oder mit dem Wissenschaftsrat, wo sie schon sieben Jahre sitzt?

Eigentlich ist es auch egal, denn für was steht denn schon Eberhard Diepgen: für Große Koalition, für die Zusammenlegung von Friedrichshain und Kreuzberg, für drei Mark neunzig pro Straßenbahnfahrt sowie Baukräne, die auf dem Potsdamer Platz eine Sinfonie tanzen. Hören wir nicht auf Diepgen!

Zwar gibt Lothar Bisky auch nichts auf den Regierenden Bürgermeister. Jedoch hat der PDS- Vorsitzende im Fernsehen gesagt, für Dagmar Schipanski spräche, daß sie eine Frau und aus dem Osten sei. Nun ja, das kennen wir von der PDS: das mit der Stimme des Ostens. Obwohl niemand weiß, was für ein Klangkörper das eigentlich ist. Eine Himmelsrichtung auf Tournee? Das wäre dann der vierte Akzent. Stünde Lothar Bisky nicht für SED, Diktatur, Stasi, Kommunismus und Mauer. Auch seinen Worten brauchen wir keine Beachtung zu schenken, Gott sei Dank. Gott? Der repräsentiert doch alles, was es in Wirklichkeit nicht gibt. Also, nichts zu danken!

Schließlich hat Dagmar Schipanski ja auch einen eigenen Mund. Als sie den das erste Mal aufgemacht hat, sagte sie, man müsse die PDS als demokratisch gewählte Partei akzeptieren. Beim zweiten Mal soll sie laut darüber nachgedacht haben, wie unsinnig es ist, daß auch Ostler Solidarzuschlag zahlen. Nun hat sie Ärger mit der Partei, deren Kandidatin sie ist, und sagt, sie wolle dennoch bei „ihrer Linie“ bleiben. Was für ein Unsinn. Oder hat jemand schon mal einen Akzent gesehen, der sich bewegt?

Politische Diskussionen verlaufen in unserem Land wie eine Kür auf dem Eis. Eiskunstläufer zeigen zur Musik, was sie zu zeigen haben. Ihre Vorträge sähen irgendwie alle gleich aus, gäbe es nicht die Sprünge – setzte man nicht Akzente. Da allein die Tatsache, wer die Sprünge übersteht und wer nicht, letztlich über den Erfolg entscheidet, kann der Zuschauer den Rest der Kür auch vergessen. So eignen sich Eiskunstlaufübertragungen gut zum Nähen, Schrauben, Putzen, Basteln, Sortieren. Man geht seinen eigenen Angelegenheiten nach und hängt dabei seine Aufmerksamkeit lediglich an die Stimme des Sportreporters, die sich von einem Sprung zum nächsten redet: „Gestanden! Oje, ein bißchen verwackelt! Leider nur einfach!“

Wer sich in einer politischen Debatte anders verhält, wer ihr etwa mehr als nur akzentuierte Aufmerksamkeit schenkt, verschwendet nicht nur seine Zeit, sondern offenbart, daß er nichts von politischen Debatten versteht. Denn um wen oder was auch immer diskutiert wird – die Person oder Sache selbst ist völlig unwichtig: Sie steht für etwas. Manfred Stolpe steht für Stasi, Harald Ringstorff für Machtgier. Der Potsdamer Platz steht für die neue deutsche Hauptstadt, Nadja Auermann für das schöne Berlin, zumindest so lange, wie die Schönheit nicht vergangen ist. Dann haben wir ja noch das Schiller Theater für das ewige Berlin.

Man könnte meinen, es handle sich bei dieser Art, Debatten zu führen, um eine hilfreiche Strategie. Immerhin braucht man keine Sachkenntnis, sondern braucht sich nur zu positionieren: Wofür steht der oder das, und wo stehe ich? Politische Debatten hierzulande sind stets übersichtlich, weil in den Fronten immer gleich. Dementsprechend uninteressant. Es ist doch völlig egal, wer Dagmar Schipanski wirklich ist. Stand Hans Eichel gestern noch für unerwartete Niederlage von Rot-Grün in Hessen, so bedeutet er heute den unerwarteten Sieg des Kanzlers über Oskar Lafontaine.

Wie bei den Sprüngen auf dem Eis ist auch bei den vermeintlichen Akzenten immer noch eine Drehung mehr drin. So verkörperte Dörte Caspary, als sie noch SPD- Parteisprecherin werden sollte, mit ihrer kessen, roten Frisur die gutaussehenden Frauen von heute, außerdem die frischgebliebenen Mütter sowie den selbstbewußten Osten. Als sie nicht mehr Parteisprecherin werden sollte, waren die Hochglanzfotos, die sie vorher so bravourös ins Licht gesetzt hatten, plötzlich nur plump gestellte Abbilder von Lügen. Und die Haare, wer würde dieses Sinnbild nicht verstehen: gefärbt! Das Mißtrauen, daß der Frau von Anfang an entgegenschlug, hatte mit ihr persönlich ebensowenig zu tun wie die Sympathie.

Personen öffentlicher Debatten sind hierzulande schwer von den Akzenten, die sie zu setzen haben, belastet. Ansonsten sind sie – nichts. Die CDU-Bundespräsidentschaftskandidatin steht auch dafür, wie man jemanden für politische Debatten mißbraucht.

Kein Wunder, daß wir alle auf Effekte versessen sind. Hunderte Male bin ich in den vergangenen Jahren am Palast der Republik vorbeigekommen. Um ihn wird endlos geredet, ihren Diskussionsgegenstand hat die Debatte längst hinter sich gelassen. Also interessiert mich der Ausgang kaum noch. Doch neulich sah ich nachts durch die schmutzigen Scheiben Neonleuchten flackern. Licht im Hause des Volkes! Energie! Bedeutete das Hoffnung? Ich vergaß, daß sich mein Kanzler anstelle des Palastes das Schloß zurückgewünscht hatte. Das stand natürlich für seinen vom Volk abgehobenen Geschmack. Ich vergaß auch, daß Stefan Heym daraufhin seinen Kaiser zurückhaben wollte. Das stand für gar keinen Geschmack.

Plötzlich fiel mir ein, wie ich mich einst mit Kevin Costner und Whitney Huston gelangweilt habe – bis am Ende des Films der Schuß fiel. Kevin Costner fiel getroffen zu Boden. Man wollte der Frau helfen, aber sie schrie: „Es ist mein Bodyguard!“ Laut hallte ihr Ruf durch die Nacht von Berlin-Mitte: „Mein Bodyguard blutet!“ Und ich weinte um den Palast der Republik.