Richtig, wichtig und ein bißchen überholt

■ Sozialwahl 1999: Die Versicherten haben nur scheinbar die Macht, weil Gesetze alles regeln

Berlin (taz) – Zwei Worte – „Richtig. Wichtig.“ – und ein roter Briefumschlag. „Stopp, halt, da kommt was“, soll die Signalfarbe sagen. Meint jedenfalls die Crew der Werbefirma Scholz & Friends. Das ganze Land hängt voll mit Plakaten, die für die Sozialwahl am 26. Mai mobilisieren.

Seit Wochen verschickt die Bundesanstalt für Angestellte (BfA) die Info-Broschüren. 47 Millionen Angestellte, freiwillig Versicherte und Rentner sind aufgerufen, „die Selbstverwaltung über Interessenvertreter in der Sozialversicherung zu wählen.“ Alle sechs Jahre bitten Rentenversicherer und Ersatzkassen ihre Versicherten zur Briefwahl. Doch die meisten wissen gar nicht, worum es geht.

Die Selbstverwaltungen der Rentenversicherer und Angestelltenkrankenkassen sind ein Relikt aus der Gründerzeit der Organisationen, die teilweise, wie etwa bei der Deutschen Angestelltenkrankenkasse (DAK), über zweihundert Jahre zurückliegt. Die diesjährige Sozialwahl kostet 29 Millionen Mark. Vor sechs Jahren machten 42 Prozent der Wahlberechtigten mit. Die Wahl ist nicht nur teuer, es fragt sich auch, was die Versicherten überhaupt in den Gremien bewirken können. Im Laufe der Jahrzehnte haben sich etwa die Krankenkassen weit von jenen Selbsthilfevereinen entfernt, als die sie einmal gegründet wurden. Ihre Etats belaufen sich auf Milliarden, ähnlich einem größeren Industrieunternehmen.

Für die Politik von BfA und Krankenkassen ist die Selbstverwaltung Gold wert. Nur über die Vertreterversammlung dürfen sie sich zu Fragen der allgemeinen Sozialpolitik äußern. Gäbe es keine Selbstverwaltung, wären BfA und Kassen schlichte Behörden und müßten zu Fragen der Gesundheitspolitik und den Reformen des Sozialwesens schweigen.

„In den nächsten Jahren stehen wichtige politische Entscheidungen an, die die Weichen stellen für die Zukunft der deutschen Sozialversicherung“, versucht BfA-Pressemann Rainer Helbing für die Wahl zu animieren. Viel zu entscheiden hat die Selbstverwaltung der Rentenversicherer allerdings nicht. Sie kontrolliert zwar den 210 Milliarden Mark schweren Haushalt der BfA, übt sich bei Parteien als Rentnerlobbyistin und wählt den BfA-Vorstand. Wirklichen Einfluß hat die Vertreterversammlung aber nur bei marginalen Entscheidungen, etwa bei der Frage, ob Kuren und andere Rehabilitationsmaßnahmen erweitert oder gekürzt werden können. Den Rest, immerhin 98 Prozent der Leistungen der Sozialversicherungen, regeln Bundesgesetze.

Daß die Vertreterversammlungen als „Parlament“ der Versicherten bezeichnet wird, mutet ohnehin merkwürdig an. Bei der BfA schicken Arbeitgeber und Arbeitnehmer jeweils 30 Vertreter in das Gremium. Die Arbeitgeber bestimmen ihre Abgesandten, die Arbeitnehmer dürfen nur Listen wählen, deren Kandidaten aber nicht zuvor von den Mitgliedern der jeweiligen Institution in freier und geheimer Wahl bestimmt wurden. Die Kandidaten bleiben anonym, ihr Durchschnittsalter liegt bei 50 Jahren. Rentner lassen sich am ehesten für diesen ehrenamtlichen Posten begeistern. Nur drei Kandidaten auf der BfA-Liste sind jünger als 30 Jahre. Letztlich dürfen die Wahlberechtigten ihr Kreuzchen nur nach Geschmack verteilen.

Nicht nur die BfA ruft zur Wahl auf. Auch die Angestelltenkrankenkassen bitten um die Stimme. Ihr Selbstverwaltungsorgan heißt seit 1996 Verwaltungsrat, umfaßt maximal 30 Mitglieder und befindet über den Haushalt der jeweiligen Krankenkasse und die Höhe der Beitragssätze.

Die Gewählten sitzen zwar anschließend in den Widerspruchsstellen, wo man sich über Entscheidungen der Kasse (OP verweigert, Haushaltshilfe abgelehnt) beschweren kann. Doch die Macht der Selbstverwaltung ist auch hier begrenzt. Die wenigsten Versichertenvertreter sind juristisch so fit, daß sie selbständig über die Widersprüche befinden könnten. Also werden ihre Entscheidungen von den Juristen der Kassen (vor)formuliert.

Im vergangenen Jahr beliefen sich die Aufwendungen für die Sozialversicherung (ohne Arbeitslosenversicherung) auf über 800 Milliarden Mark. Zum Vergleich: Der Bundeshaushalt liegt in diesem Jahr bei 488 Milliarden Mark. Angesichts dieser Dimensionen gleicht die Sozialwahl in ihrer althergebrachten Form einem Anachronismus.

Die Frage, wie diese Mitbestimmung zeitgemäßer gestaltet werden kann, stellt sich momentan niemand. Weder in den Gewerkschaften noch in anderen Verbänden. Alle wollen Posten vergeben, um verdienten Mitgliedern das Gefühl zu geben, sie seien – richtig wichtig. Annette Rogalla