Geist aus der Dose

Vereint touren, getrennt spielen: Zum dreißigjährigen Jubiläum kommen die vier Mitglieder von Can auf gemeinsame Solo-Tournee. Eine „Can-Box“ konserviert zusätzlich den Kultstatus der einflußreichsten deutschen Band neben Kraftwerk  ■ Von Uh-Young Kim

Kult ist in der gottverlassenen Welt des Pop Gold wert. Kult vergoldet das Kalb, um das sich die Verirrten – nennen wir sie Fans – auf der Suche nach Identität scharen, er setzt der Vergangenheit einen mystischen Goldfilter auf und ist nicht zuletzt die goldene Gans, aus der der Mammon ewig fließen soll. Jeder Kult muß zyklisch wiederbelebt werden, um die Totgesagten aus den Tiefen des kulturellen Gedächtnisses zurück ins aktuelle Geschehen zu befördern. Denn Vergessen ist bekanntermaßen menschlich.

Auch wenn der Status „Kultband“ schon zum zweiten Namen von Can gehört, feiert „die einflußreichste deutsche Rockband“ ihren dreißigjährigen Geburtstag mit einem Paket, das ihr Schaffenswerk multimedial aufwärmt. Im Mittelpunkt der „Can-Box“ steht das inzwischen zweite Buch zur Bandgeschichte. Es gibt einen umfassenden Überblick über ihre Entwicklung anhand von Interviews mit den vier originalen Mitgliedern, Kommentaren und wissenschaftlichen Annäherungsversuchen. Die erste Live-CD der 1968 gegründeten Kölner Band und ein Video geben spätgeborenen Fans darüber hinaus die Möglichkeit, die Mutter des Krautrocks audiovisuell mitzuerleben. Umrahmt wird die Box von einer Tour, auf der die aktuellen Solo-Projekte der einzelnen Can-Mitglieder präsentiert werden.

Teamgeist wie sonst nur im Sport

Holger Czukay, Irmin Schmidt, Michael Karoli und Jaki Liebezeit sind der Traum eines jeden Proberaums. Brian Eno sagte einmal über Can, daß sie den Geist von Raum und Zeit, einen bestimmten Typ einer musikalischen Gemeinschaft eingefangen hätten – nebst deren Philosophie. Für Holger Czukay, Bassist und später Toningenieur von Can, liegt ihr Geheimnis darin, daß sie damals nur als Kollektiv, ohne jegliche solistischen Bestrebungen funktionierten: „Bei Can waren alle gleichberechtigt, jeder war Chef. Diese Art, aus dem Nichts etwas instantmäßig zu erschaffen, also aus dem Augenblick heraus, gibt es sonst eigentlich nur im Sport.“

In den Sechzigern nicht unbedingt ein naheliegender Vergleich. Es waren zwei Kompositionsschüler Karl-Heinz Stockhausens, der Gitarrist einer Beat-Band und ein desillusionierter Free-Jazz-Drummer, die aus ihren Widersprüchen einen organischen Sound kreierten, der im freien Spielfluß die Ästhetik von Postrock, Punk, Ambient und Drum'n'Bass vorwegnahm. Zweifellos waren sie ihrer Zeit weit voraus – und dabei professionell und verrückt genug, auf die Bühne zu steigen und nicht zu wissen, was sie spielen werden.

Dann aber gingen sie in ihrem ganz eigenen Raum-Zeit-Kontinuum auf. „Jaki stimmt sein Schlagzeug, indem er Klopfzeichen in einem Geheimrhythmus sendet, Holger ist ganz weit weg in seiner Mischpultraumkapsel und produziert dumpfe Erdbebenstöße, Michael starrt seine Gitarre an, die die 8-Uhr-Nachrichten sendet ... bis es sich plötzlich zu einem Groove vereint.“ So beschreibt Irmin Schmidt im neuen Can-Buch die damalige Atmosphäre im Inner-Space-Studio bei Köln: legendewerdende Band at work.

Can-Rolle ohne Diskursstoff

Um Cans Weltruhm gerecht zu werden, ist das „Can-Box: Book“ dreisprachig konzipiert, was nicht unbedingt zum ungebrochenen Lesefluß beiträgt. Ansonsten bietet das Buch nicht viel Neues. Aus den Perspektiven der vier originalen Mitglieder wird die Bandbiographie als Aneinanderreihung von Erinnerungen noch einmal aufgerollt. Von den Anfängen auf Schloß Nörvenich mit dem amerikanischen Sänger Malcolm Mooney, den Auftragsarbeiten für Film und Fernsehen („Aspekte“-Titelmusik, Krimi-Soundtracks etc.), der als Blütezeit Cans geltenden Phase mit dem japanischen Straßenmusikanten Damo Suzuki bis hin zu der Einführung der Mehrspurtechnik, die letztlich zum Split der Band geführt hat.

Weder werden in den ausführlichen Einzelinterviews die Erkenntnisse des vorangegangenen, im Sonnentanz-Verlag erschienenen Can-Buchs vertieft, noch gelingt es dem Interviewer Wolf Kampmann, den vier eigensinnigsten Charakteren der deutschen Rockgeschichte amüsante Anekdoten aus dem wahren Innenleben der Band zu entlocken. Der Versuch, Cans Schaffen anhand einer musikwissenschaftlichen Betrachtung des Stücks „Peking O.“ und einem gemeinsamen Gespräch mit dem Kulturwissenschaftler Josef Spiegel in einen analytisch-übergreifenden Rahmen zu setzen – und den Geist aus der Dose dabei zu entmystifizieren –, plätschert in Ermangelung relevanten Diskursstoffes an der Oberfläche. „Wir haben nur Musik gemacht“, betonen die Space-Rocker immer wieder. „Die Musik hat sich selbst gespielt, wir waren nur Werkzeuge und Instrumente.“

Alles, bloß nicht die Wahrheit

Von selbst wären sie nicht auf die Idee gekommen, sich mit ihrem inzwischen dritten Revival einen Platz unter den Unsterblichen zu reservieren. Einzig der Initiative von Hildegard Schmidt, Ehefrau von Irmin und Managerin der Band, ist es zu verdanken, daß Can 1989 kurzzeitig wiedervereinigt wurden, wegweisende Can-Stücke von elektronischen Musikern auf dem Tribute-Album „Sacrilege“ geremixt wurden und ihr musikalisches Erbe auf dem hauseigenen Label „Spoon“ von Zeit zu Zeit reanimiert wird.

Man sperrt sich nicht gegen den Legendenstatus. Dennoch hält Holger Czukay keines der bisher erschienenen Can-Bücher für gelungen. „Ich würde das ganz anders machen. Ich halte mich da an einen Ausspruch von Katharine Hepburn: Leute dürfen alles über mich schreiben, solange es nicht der Wahrheit entspricht. Ich würde die Stories sammeln, die es zu erzählen gibt.“ Stories gibt es einige. Die merkwürdige Geschichte zum Beispiel, als Can zu Gast bei Radio-DJ John Peel für eine seiner berühmten Sessions in London waren. Czukay: „Jaki sagte, wir müssen jetzt so abfahren, daß die Studio-Uhr stehen bleibt. Und tatsächlich: Nach der Session stand die Uhr still. Der Toningenieur sagte, das wäre in zwanzig Jahren noch nicht passiert.“ „Das mag an den Vibrationen gelegen haben“, mutmaßt Liebezeit.

Anschluß an die aktuellen Beats

Die maschinenhaft-präzisen Loops des Ausnahme-Schlagzeugers („Jaki hat eine Maschine menschlich aussehen lassen“) haben im technoiden Sound des Trios „Club Off Chaos“ ihren zeitgemäßen Platz gefunden. Auch Irmin Schmidt sucht in seinem Solo-Projekt mit dem Londoner Drum'n' Bass-DJ Kumo den Anschluß an die aktuellen Beats. Michael Karoli sucht den „Sofortkontakt“ mit Musikern, Publikum und Raumklang, und zu welchen Blüten sich Czukays prädigitale Sample-Erfahrungen („Ich habe entdeckt, daß ein Diktaphon ein Musikinstrument ist“) entwickelt haben, wird auf Tour in der „Medienkunstwelt“ Gvoon zu sehen sein, in der der 60jährige „als eine Art Zauberer rumrast“.

Nur mit seiner alten Band möchte er nicht mehr spielen. Auf der Can-Tour ist man gemeinsam unterwegs, aber getrennt auf der Bühne. Im Kollektiv werden sie wohl nie mehr wieder die berühmte Can-Magie versprühen. Sie wissen, was sie zu verlieren haben. „Bei einem gemeinsamen Auftritt müßten wir uns selber wiederholen. Das würde die Mystik zerstören.“ Ein Angebot aus London haben sie bereits abgelehnt. „200.000 Mark machen noch keinen Kult heutzutage. Bei 20 Milliarden Mark könnte man darüber nachdenken. Das würde den Kult wiederum erhalten.“

Premiere der Can-Solo-Projects, 19. 3. Columbiahalle, mit Gvoon, Club Off Chaos, Irmin Schmidt und Kumo, Sofortkontakt

„Can-Box: Book“, Hildegard Schmidt, Wolf Kampmann (Hrsg.), Medium Music Books, Münster, 1998

Can-Box vom 19.–28. 3. als limitierte Edition über Edel Contraire erhältlich (ab September 99 sind die Items auch einzeln erhältlich)