Aufgesputscht fürs Arbeitsamt

Ohne Biß: Nicolai Sykosch inszeniert Botho Strauß' „Der Kuß des Vergessens“ im TiK – als risikolose Versuchsanordnung  ■ Von Joachim Dicks

Man kennt diese lebensfeindliche Atmosphäre vom Arbeitsamt: Schweigende Menschen mit Zombie-Blicken und gebeugten Schultern warten auf den Gong, mit dem endlich ihre Nummer mittels einer Digitalanzeige aufgerufen wird. In so einer ereignisarmen Umgebung, von Bühnenbildner Dirk Thiele mit einer Holzbank, einem Cola-Automaten und ein paar Stühlen noch einmal besonders karg ausgestattet, wirkt der Auftritt der jungen Ricarda (Susanne Wolff) wie ein dionysisches Aufputschmittel. Angeblich hat sie eine Wette verloren, weshalb sie sofort ein Lied singen und einen Unbekannten küssen muß. Ihre Wahl fällt auf Herrn Jelke (Christoph Bantzer), einen älteren Herrn, der in seinem bieder-weißen Hemd den größtmöglichen Gegensatz zu ihrem jugendlichen Jogginganzug-Outfit bildet.

Ein Kuß, und das Experiment Beziehung oder „Vierfuß“, wie Botho Strauß es nennt, kann beginnen. Ein Kuß des Vergessens muß es allerdings sein, denn erstens heißt das Stück so und zweitens wollen die beiden etwas Neues ausprobieren. Dazu gehört nun mal: ein Riß in der Biographie. Am besten eine Tabula rasa.

Strauß nennt sein Stück im Untertitel ein „Vivarium rot“ – eine Art Versuchsanordnung der Liebe. Die Bühne dient ihm als Labor, die Figuren als Versuchskaninchen. Dabei sorgen in der Inszenierung von Nicolai Sykosch rote Glühbirnen, die von der Bühnendecke hängen, für UV-lichtgeschützte Dunkelkammer-Atmosphäre. Wie unfixiertes Fotopapier sollen diese Experimente der Liebe erst im Schutz vor dem grellen Licht der Wirklichkeit ausprobiert werden.

Strauß erzählt natürlich keine lineare Geschichte. Auch in Der Kuß des Vergessens hält er an seiner kulturpessimistischen Sicht, in der das Erotische verlorengegangen ist, fest. Die Form der fragmentarisch aneinandergereihten Szenen spiegelt diese Sicht über das zerissene Subjekt wider. In diesen Szenen geht es um Betrug und Fluch, pseudodialektische Liebeserklärungen, verschwundenes Schwarzgeld und Bildungslücken als Liebestöter. Die Klammer des Stücks bildet eine durcheinandergeifernde Menschenmenge, die sich über die richtige Art, einen Kinofilm zu beurteilen, nicht einigen kann. Kunstkritik als Kulturverfall! Schlimmer als die privaten Leergespräche sind nur noch die öffentlichen Null-Diskurse?

Susanne Wolff als Ricarda und Christoph Bantzer als Herr Jelke sind zu keiner Zeit ein Liebespaar. Nicht nur ihr Altersunterschied, sondern vor allem ihr distanzierter Umgang erinnert mehr an eine normalverkorkste Vater-Tochter-Beziehung. Verzweifelt wirbelt Susanne Wolff mit ihren Armen in der Luft, als ob sie daran zweifelte, wahrgenommen zu werden, während Christoph Bantzer ihr apathisch gegenübersteht und einen Vortrag über das versunkene Atlantis hält.

Erst nach Jelkes Tod, als sein Jugendfreund Lukas Rostlob (Dirk Ossig) die Vierfuß-Stelle bei Ricarda einnimmt, wird das mechanisierte Anziehungs- und Abstoßungsspiel von Paaren, wie es sich vorher nur angedeutet hat, lebendig.

Was der Inszenierung von Nicolai Sykosch über weite Strecken fehlt, ist Leichtigkeit – was sich immer dann zeigt, wenn sie einmal da ist. Etwa beim Tangotanz von Herrn Jelke und Dr. Mauthner (Axel Olsson), während sie über Menschtypen und Müslimotten reden. Oder wenn Susanne Wolff verzweifelt einen übergroßen Stuhl durch eine viel zu kleine Tür bugsieren will.

Kleist sagte einmal: Küsse und Bisse, das reimt sich. Davon ist bei Sykosch leider nichts zu spüren. Seine Inszenierung ist wie ein Kuß ohne Biß.

Nächste Vorstellungen: 23., 24., 25. und 30. März, 20 Uhr