Das Kino im Kopf im Radio

■ Der renommierte „Hörspielpreis der Kriegsblinden“ wird zum 48. Mal vergeben. Dieses Jahr geht er an Rafael Sanchez, der die spanische Variante von „Spiel mir das Lied vom Tod“ erzählt

Kaum ein Medium ist schneller, beweglicher und subversiver als das Radio. Darum ist es nur logisch, daß die Besetzung einer Radiostation zum Einmaleins aller Putschisten gehört. In friedlicheren Gegenden zeigt sich der unmittelbare Zugriff des Mediums beispielhaft in der Figur des Sportreporters, der selbst Fußballmuffeln Adrenalinschübe versetzt. Hörbücher haben Konjunktur, und Radio als Geräuschemacher ist bei den ganz Jungen wieder hip – beides wohl wegen der Direktheit von radiophoner Vermittlung. Das ist auch der Stoff, aus dem die Hörspiele sind. Die Ansprache aus dem Nichts kann überwältigend wirken – so wie das freie Spiel mit fiktiven Räumen, mit Sprache, Tönen, Musik – und mit der spannungsvollen Pause. Keine Stille ist stiller als die, wenn für einen Atemzug der beruhigende Radiofluß stockt: Dann erfährt man, aufgeschreckt, ein Loch in der Wirklichkeit.

In Deutschland gibt es zwölf Redaktionen, die sich dem Gestalten von Sprach- und Tonraum widmen. An zwei Tagen im Jahr werden ausgewählte Arbeiten von der 19köpfigen Jury des „Hörspielpreises der Kriegsblinden“ durchgehört und diskutiert, um dann den begehrtesten Preis der Branche zu vergeben. War die Entscheidung letztes Jahr durch Überstimmen der mutigeren Juroren gefallen – gegen den durchaus zynischen Zeitgeist von Schlingensiefs „Rocky Dutschke 68“ –, traf man sich dieses Mal in erfreulicher Harmonie. Mit 16 zu 3 Stimmen wurde die vitale WDR-Einreichung „Rafael Sanchez erzählt: Spiel mir das Lied vom Tod“ gekürt.

Die Geschichte ist radiotechnisch so genial wie die Idee simpel: Ein junger Spanier, Sanchez selbst, hält Rückschau auf seine ländliche Jugendzeit bei Oma und Opa. So weit, so klassisch – wenn dieser Opa nicht Cineast gewesen wäre und zwischen Kirche und Friedhof ein Dorfkino installiert hätte, in dem sein „Film des Jahrhunderts“ jahrelang zweimal im Monat lief: „Spiel mir das Lied vom Tod“. In rasanten, präzise komponierten Schnitten vermischt sich die Entwicklungsgeschichte des Jungen unentwirrbar mit imaginierten Close-ups der bekannten Bilder und Stimmen von Henry Fonda, Claudia Cardinale und den anderen Helden.

Rafaels Träume und Ängste gestalten sich aus dem Surren der Zikaden, dem Zischen der Filmschüsse, dem aufgeschreckten Pferdewiehern. Wenn Weltverständnis und Moral auch (scheinbar?) vom Gut und Böse dieses Leinwand-Epos geprägt sind – nie wird die Wirklichkeit des Jungen von der Fiktion erdrückt (wie eine plumpe Medienkritik es sich vielleicht gewünscht hätte). Rafaels Phantasie wertet einfach alles um. Übliche Dorfschoten, ein Mord beim Falschspiel, ein wichtiger Ausflug in die Stadt und der Gang ins Schweizer Wirtschaftsexil werden durch die naiv-komische Verschränkung von Schein und Sein vor sentimentalem Schmelz bewahrt.

Sanchez und sein Co-Autor Eberhard Petschinka treffen hier mit einem Wurf sehr viele Sparten: das (angetäuschte) O-Ton-Hörspiel, den Geräusch-Comic-strip, die Hörcollage. Regie und Sprache lassen eine Lust und Spielfreude erkennen, die über das Gros der routinierten Produktionen – kunstvolle, pädagogische, gutgemeinte oder mitfühlende – hinwegtröstet und dem Radio seine medialen Spielvorteile zurückgibt. Zudem erfahren wir von dem national gemischten Autorendoppel ganz nebenbei sehr viel vom „Multikulti“-Leben in Europa.

Gegen so einen direkt-lebendigen Zugriff ging der zweite Favorit „Denotation Babel“ (HR) leer aus. Auch dies ein gelungenes Zusammenspiel aus Sprache (Helmut Krausner) und Musik (HCD), das kurz vor der Jahrtausendwende die Schätze unserer Kultur noch einmal zusammenträgt. Da strömen uns Wort-, Mythen- und Gedankenfetzen ins Ohr, ohne sich in weißem Rauschen zu versenden. Werden umspült und weitergetragen von der Komposition, bis sie schließlich, wie beim Rücklauf einer Welle, als sprachliches Rieseln zurückbleiben. Worte werden so zum Instrument der Musik und folgen ganz eigenen sinnlichen Gesetzen. Den Radiogesetzen. Gaby Hartel

Gaby Hartel war Mitglied der Jury