Arme Kranke bleiben auf der Strecke

In staatlichen russischen Kliniken mangelt es an Medikamenten und Verbandsmaterial. Die Krise vom vergangenen August hat die Situation noch verschärft. Das Gesundheitssystem steht vor dem Zusammenbruch    ■ Aus Moskau Karsten Grawert

Kinderlachen emfängt Walentina Wassilewna, als sie das Kranken-hauszimmer betritt. „Das ist unser Mitja“, erzählt sie stolz „Wir haben ihn hier bei uns aufgezogen. Jetzt ist er bald so alt, daß er in ein Waisenhaus kommt.“ Sie brabbelt ihm etwas in Kindersprache vor. Im benachbarten Gitterbett staunt eine 3jährige durch die Stäbe. „Unsere Mascha ist leider infiziert. Sie bleibt vorerst bei uns.“

In der Kinderabteilung des 2. Krankenhauses für Infektionskrankheiten in Moskau wachsen die Babys HIV-infizierter Mütter auf. „Es sind praktisch Waisenkinder. Ihre Mütter sind drogenabhängig, können nicht für sie sorgen“, erzählt Walentina Wassilewna. Sie tritt an einen Brutkasten mit einem Neugeborenen heran. „Unser Kleinster hat bei seiner Geburt 1,5 Kilo gewogen. Aber wir päppeln ihn schon wieder auf.“

In den ersten Wochen werden die Kinder mit „Retrovir“ behandelt, einem englischen Präparat, mit dem die Wahrscheinlichkeit einer HIV-Infektion auf ein Minimum reduziert werden kann. Hier liegt Walentina Wassilewnas größte Sorge: „Seit Beginn der Krise konnten wir kaum noch neue Medikamente kaufen. In vier Wochen geht uns der Vorrat aus.“

Der Arzneimittelimport stagniert in Rußland. Apotheken und Kliniken werden nur noch spärlich beliefert. Ausländische Präparate sind fast vollständig aus den Regalen verschwunden, und einheimische Arzneien kosten mehr als dreimal soviel wie im Sommer. Aus der eigenen Pharmaproduktion kann sich Rußland nicht versorgen, auch in Sowjettagen importierte man hauptsächlich aus den sozialistischen Bruderländern. Und die verlangen heute Dollar.

„90 Prozent unserer Medikamente wurden importiert. Bis zur Krise“, sagt Alexander Motschalow, Chefarzt einer Klinik im Moskauer Vorort Reitow. „Jetzt verschreiben wir unseren Patienten ihre Heilmittel, und die kommen dann mit leeren Händen von den Apotheken zurück. Wir Ärzte sind dagegen machtlos.“

Alexander Motschalow sitzt in einem schlecht geheizten Zimmer in einem Gebäude, das ursprünglich als Supermarkt entworfen wurde. Seine Klinik liegt im Erdgeschoß eines Wohnblocks. Nur die Protektion des örtlichen Bürgermeisters machte die Gründung der Klinik 1991 möglich.

„Das russische Gesundheitssystem steht vor dem Zusammenbruch“, erklärt er. „Zu Sowjetzeiten gingen 3 Prozent des Staatshaushaltes in die Gesundheit. Heute sind es noch 0,18 Prozent. Die Durchschnittslebenserwartung bei Männern ist auf 56 Jahre gefallen – das ist Afrika.“

Vor vier Jahren wurde in Rußland ein Krankenversicherungsmodell eingeführt, um den Etat zu entlasten. Das Geld für die Krankenversorgung sollte aus der Wirtschaft kommen. Auf der Strecke blieb dabei die kostenlose ärztliche Versorgung von Invaliden und Kleinkindern. Und die neuen Versicherungen bilden heute nur eine weitere Instanz, in der Geld versickert und notwendige Zahlungen zurückgehalten werden. „Wir müssen bei den Krankenkassen um jede Kopeke betteln. Dabei berechnen wir für eine Untersuchung nur 5 Rubel. In privaten Kliniken nehmen sie mindestens 500.“

Private Luxuskliniken schossen in den letzten Jahren wie Pilze aus dem Boden Moskaus. In sogenannten „Medical Centers“ kümmern sich Ärzte aus dem Westen um die Superreichen. Von Klimaanlage bis Kabelfernsehen ist hier für alles gesorgt. Dafür kostet ein gebrochener Arm satte 600 Dollar. Bezahlt wird in Cash.

„Klar, unsere besten Leute sind in den Privatbereich abgewandert“, sagt Dr. Motschalow. „Ich weiß ja selbst nicht, wie ich von meinen 1.200 Rubeln Lohn leben soll.“ Mit der Inflation ist sein Chefarztgehalt auf 100 Mark geschrumpft. Zudem gingen der Klinikbelegschaft zwei Monatsgehälter verloren, als die russischen Banken zusammenbrachen.

„Nein, leben kann man von dem Gehalt nicht“, gibt eine Schwester aus Motschalows Klinik zu. „Ohne die Unterstützung meines Mannes würde ich schon längst als Kioskverkäuferin arbeiten.“ Sie putzt einem kleinen Patienten die Nase und notiert seine Daten in ein billiges Schulheft.

Nicht nur an Schreibmaterial mangelt es in der Reitower Klinik. Auch der Vorrat an Röntgenfilmen und speziellem Verbandsmaterial geht zur Neige. Trotzdem wurde bis jetzt noch kein Patient nach Hause geschickt. Die Belegschaft fand immer einen Weg zu improvisieren. Und die Stimmung in den bunten Räumen der Kinderabteilung ist nach wie vor fröhlich. „Ich arbeite gern hier“, erklärt die Krankenschwester. „Richtiges Geld haben wir auch vor der Krise nicht verdient.“