Kollektiver Seufzer

Populistisch wie kinderbeißende Politiker: Ulf Rehwagen und Jens Schulz versorgen Hamburg via „Spellbound“ mit rarem Soul  ■ Von Michael Hess

Schon auf der Treppe hört man es gedämpft bullern. Ein Sound so dumpf und warm wie die Luft, die ihn trägt. Es ist Sonntagmorgen, kurz vor zwei, und im Molotow entschwindet mit dem Schlußakkord eines Carla-Thomas-Songs der letzte Rest von Sauerstoff im kollektiven Seufzer der Menge. Nein, lärmen tut es hier nicht, dafür ist der Laden auch zu voll. Wer will, kann sogar das ledersohlende Geschlurfe der Tanzenden hören. Viele von denen sehen aus, als seien sie 1965 durch ein Zeitloch geplumpst und wollten nicht mehr zurück. Kreisende Dekos, hochtoupiertes Personal und engbehoste DJs lassen dann keine Zweifel mehr: „Spellbound“ hat wieder zugeschlagen.

„Spellbound“ – ein segensreicher Fluch, der Hamburgs Sixties-Soul-Gemeinde seit 1996 fest im Bann hält. Damals hatten die DJs Ulf Rehwagen und Jens Schulz die Idee zu einem Sixties Soul & Rhythm Club, der die Leute abseits des hitlastigen Motown-Sounds mit afroamerikanischen Soulklassikern zum Tanzen bringen sollte.

Seit den Anfangstagen im Kaifu-Art-Center sind „Spellbound“-Abende innerhalb der Hamburger Clubszene einzigartig. Nirgendwo tanzen so viele Menschen auf so wenig Hits. Tatsächlich geben sich die beiden Rare-Soul-DJs im Auflegen so populistisch wie kinderbeißende Politiker. Doch gerade das kommt an. Im Schnitt besuchen 500 „brothers & sisters“ die Veranstaltungen, die jetzt jeweils am letzten Sonnabend im Monat auf dem Kiez stattfinden. Den Vorwurf des Sektierertums weisen die beiden Spezialisten daher unisono zurück. „Es gibt weder einen Dresscode, noch sind wir hier die Oberlehrer, die mit erhobenem Zeigefinger sagen –Tanz oder stirb-“, meint Rehwagen und zieht an seiner Juno. „Hier sollen alle hingehen, die am Soul Spaß haben und sich für eine Nacht drauf einlassen können.“

Daß Hamburg dafür ein gutes Pflaster ist, wissen die beiden schon lange. Eine hiesige Soul-Szene entwickelte sich nach englischem Vorbild bereits zu Beginn der Achtziger aus der Mod-Bewegung heraus. 1983 fand ein ein erster Allnighter im Kir statt, das seitdem zu Weihnachten und Ostern Treffpunkt der Northern-Soul-Fans ist. Dem eher up-tempo-lastigen Beat des Northern Soul stellen die „Spellbound“-DJs eine eigene Mischung entgegen: „Soul, wie wir ihn handhaben, ist ein schwammiger Begriff“, so Schulz. „Da ist alles drin, von späten Vokalgruppen bis zum frühen Funk, Blue-Eyed Soul und natürlich Rhythm & Blues.“

Fast immer jedoch rares Single-Vinyl, hinterlassen von Heerscharen hoffnungsvoller Seelen, die in den Sechzigern in die Studios pilgerten, um mit ein paar Songs alle Sorgen loszuwerden. Bei „Spellbound“ sind solche Platten Medium und Message zugleich. Was anderes zählt kaum. „In England treten schon mal Originalkünstler auf – 50- bis 60jährige Damen und Herren. Ich kann mich damit nicht anfreunden“, gibt Rehwagen zu und bekräftigt das Credo eines DJs: „Uns geht es nur ums Tanzen.“

Doch der Rare-Groove, den die beiden verfolgen, ist eine sich ständig entwertende und damit forttreibende Angelegenheit. Schatzjäger wie Andy Croasdell sind da unerläßlich. Der englische Kult-DJ wird im Mai erstmals dem „Spellbound“-Ruf nach Hamburg folgen. Für Rehwagen und Schulz waren die von ihm kompilierten Sampler für das Kent-Label eine Art Einstiegsdroge. Doch was tun, wenn eines Tages der Nachschub aus den Sixties ausbleibt? „Natürlich leben wir nicht in den 60er Jahren“, weiß Rehwagen und nestelt verlegen an der nächsten Juno. „Wir finden moderne Musik nicht verwerflich... und haben... ähm... nichts dagegen.“

„Spellbound“: Sa, 27. März, Molotow. „Soul-Allnighter“: So, 4. April, Kir. „Rare Soul“ mit DJ Andy Croasdell: Mi, 12. Mai, Mojo Club.