Individualität ohne Logo

Die Zeit des Nachwuchsdaseins geht vorbei. Christina Paulhofer tritt künftig in das Leitungsteam der Kammerspiele des Deutschen Theaters Berlin ein. Ein Porträt  ■ Von Gerhard Preußer

„Typ freier Zugvogel“, so nennt ein Angestellter die Lotte aus Botho Strauß' Stück „Groß und Klein“, deren Leidensweg durch die deutsche Wirklichkeit die Regisseurin Christina Paulhofer gerade in Bochum inszeniert hat. Die Regisseurin selbst hat unterdessen längst genug vom Wanderleben. „Nicht mehr zerrissen sein“, so Paulhofer, sei der Wunsch, den sie mit dem Umzug nach Berlin verbinde. Wobei sie die zurückliegende Unruhe nicht missen möchte: „Man kann nicht inszenieren, wenn man nichts vom Leben weiß.“

Das Standardargument gegen junge Regisseure, Erfahrungsmangel werde ersetzt durch Einfallsüberschuß, scheint sie nicht zu treffen. In ihren bislang vier Inszenierungen sind nicht nur die Helden, John Osbornes Jimmy, Botho Strauß' Lotte oder Bernard-Marie Koltès' Zucco, scharf umrissen, sondern auch die Welt um sie herum ist grell und punktgenau beleuchtet. Identifikation mit den Helden (nicht nur Heldinnen) führt bei Christina Paulhofer nicht zu egomanischem Überschwang, sondern zu satirischer Herabsetzung der Mitwelt ihrer Lieblingsrebellen, -verbrecher und -versager.

Die Welle plötzlichen Jugendwahns im deutschen Theater hat sie nach oben gespült. „Ageism“ nennt sie das verächtlich. Gegen die diskriminierende Betonung ihrer Jugend hat sie mittlerweile 30 Jahre aufzubieten. In Bukarest geboren, kam sie 1976 als Deutsch- Rumänin nach Franken. In München studierte sie Germanistik und absolvierte erste Regieassistenzen am Residenztheater. In Salzburg traf sie auf Leander Haußmann, bei dessen „Antigone“ sie ebenfalls die Regieassistenz übernahm. Haußmann lud sie dann 1997 ein, in Bochum ihre erste eigene Inszenierung zu machen, obwohl sie mittlerweile an der Pariser Filmhochschule Regie studierte. Früher habe sie zuviel nachgedacht, jetzt will sie etwas machen. So springt sie hin und her zwischen zwei Kunstgattungen und drei Nationen.

In Bochum erregte ihre Regiearbeit sofort Aufmerksamkeit. Weniger über das, was da auf der Bühne zu sehen war, als darüber, daß da eine Assistentin ihre erste Produktion tatsächlich auf die Bühne bekam und sie dort halten konnte. Die Inszenierungen ihrer Assistentenkollegen scheiterten oder verschwanden meist sehr schnell wieder. Nicht die von Christina Paulhofer. Osbornes „Blick zurück im Zorn“ wurde entstaubt. Statt über Priestley erregt Jimmy sich über Botho Strauß. Im Hintergrund tappt ein Eisbär herum, Step-Einlagen und Schaumschlachten lockern die Rededuelle auf. Christina Paulhofer schien sich stilistisch nahtlos eingeklinkt zu haben in die Linie des Hauses. „Synthese aus den in Bochum gepflegten Regiestilen von Haußmann über Gotscheff bis Kruse“, schrieb die Lokalpresse.

Was von außen als opportunistische oder zumindest schülerhafte Synthese erschien, war tatsächlich ein Kompromiß. Jede erste Regie ist ein Kampf um Selbstbehauptung. Gegen ein Ensemble von routinierten und einflußreichen Schauspielern war etwas anderes nicht zu erreichen, meint Christina Paulhofer heute. Ihre Antithese zum Stil des Hauses war dann Bernard-Marie Koltès' „Roberto Zucco“. „Wunderbar dicht und tiefenscharf“ (FAZ), „respektabel, durchdacht, präzise, dezent“ (WZ), das waren die Adjektive der Kritiker.

Eine eigene Handschrift, aber keine, die sich bewußt identifizierbar machen will. Individualität ohne Logo. Das war Theater, das erzählte, von der Welt, wie sie ist, heute. Weder naiv noch selbstverliebt. Der Mörder ging durch diese Welt, ruhig, weder verklärt noch erklärt. Auch starke Effekte verabscheute die Regie nicht: Die Hubpodeste surrten auf und ab, ein veritabler Porsche rangierte auf der Bühne, eine ausführliche Schlägerei, kühl seziert in einzelne Aktionen, dann mit Musik untermalt, gesteigert bis zur Drastik, bei der alle Stilisierung schweigt. Humor und Schrecken dicht beieinander. Dazwischen kleine Hinweise auf Christina Paulhofers spezielle Vorlieben: ein französisches Chanson, eine Filmszene mit französischem Text.

Diese Inszenierung brachte ihr in der Theater heute-Hitliste für die Spielzeit 1997/98 Platz zwei bei den Nachwuchsregisseuren ein. Die unter anderem in Paris lebende Regisseurin redet lieber über französischen Film als über deutsches Theater. Die Nouvelle Vague, Godard und Truffaut, das sind ihre wirklichen Vorbilder. „Intelligenz, Pessimismus, hohe Form“ schätzt sie an Godards Filmen, nicht nur an den „klassischen“, frühen. Doch immer deutlicher wird ihr, daß es diese „hohe Form“ im Film heute nicht mehr geben kann. Der ökonomische Druck sei zu groß. Aber im Theater. Vom französischen Theater, das sie gut kennt, hält sie wenig. Mit zwei Ausnahmen: Grüber und Chereau. Deren letzte Inszenierungen kann sie detailgetreu beschreiben.

Ihre ersten beiden Produktionen waren Stücke eigener Wahl. Ihre dritte Inszenierung, in Bremen, außerhalb von Haußmanns Machtbereich, war ein Pflichtstück: Urs Widmers „Top Dogs“. Doch auch da stand sie die Auseinandersetzungen mit den Schauspielern durch (diesmal ging es um die politische, nicht um die ästhetische Linie). Danach hatte sie eigentlich die Nase voll vom deutschen Ensembletheater mit seinen Krächen und Abhängigkeiten. In Paris wollte sie mit einer freien Gruppe Theater machen. Aber dann kam Stefan Otteni und fragte sie, ob sie im Leitungsteam der Kammerspiele des Deutschen Theaters mitarbeiten wolle.

Außer der gemeinsamen Idee für eine Eröffnungsinszenierung der neuen Ära in der Kammer, Musils „Die Schwärmer“, verbindet die beiden wenig. Sie glauben an das, was sie an Positivem über den anderen bzw. die andere jeweils gehört haben. Noch kennen sie ihre Arbeiten gegenseitig nicht. Ein gemeinsames Konzept werden sie sich noch erarbeiten müssen. Aber Christina Paulhofer, die examinierte Germanistin, ist keine Frau für theoretische Konstrukte: „Wenn man muß, zimmert man sich ein Programm zurecht“, so kommentiert sie die Interviewphrasen ihrer Kollegen, den anderen Profiteuren des Jugend- Booms.

Ihr vorerst letztes Stück in Bochum ist „Groß und Klein“ von Botho Strauß, einem ihrer Lieblingsautoren. Es ist ein Großprojekt auf der Hauptbühne, ein Dressurakt mit allen Größen des Ensembles, in dem sie einen großen Bogen schlägt. Und siehe da: Es gelingt: kein Abrutschen in die Katastrophe, sondern ein Weg durch Katastrophen hindurch. Das ist Lottes Weg in Paulhofers Inszenierung. Auf dieser geschwungenen Linie durch das Leben tänzelt, schwankt und hält sich doch aufrecht: Maren Eggert als Lotte, seit ihrer Hauptrolle in Snajders „Windsbraut“ ein junger Star im Bochumer Ensemble. Sie legt den großen Monolog der Anfangsszene, so souverän flapsig, selbstironisch, so routiniert verzweifelt hin, daß aller selbstquälerischer Muff der siebziger Jahre aus dem Stück hinausgepustet wird. Aus dem Schlüsselbegriff „Jammertal“ macht sie buchstäblich eine Arie, steigt auf die Tische, trällert das traurige Wort in fröhlichen Variationen. Am Ende kann sie aus aller derangierten Verwirrtheit, nach dem jämmerlichen immergleichen Gestammel im Wartezimmer nach vorne an die Rampe stolpern und, den Kopf emporreißend, klar und offen vorwärts sehen.

„Mir fehlt ja nichts.“ Lottes letzter Satz, sonst ironischer Ausdruck des selbstentfremdeten Leidens, ist hier Ausdruck einer paradoxen Selbstvergewisserung. Der Zugvogel zieht nach Berlin. Nach ihrer letzten Bochumer Inszenierung dürfen die Erwartungen hoch sein.