Stilleben mit Kreuzstichen und Wilhelm Pieck

■ So war's! Irene Böhmes Roman „Die Buchhändlerin“ weckt kalte Erinnerungsschauer. Er zeigt die DDR in den 50er Jahren, weiß aber schon zu genau Bescheid, daß daraus nichts werden konnte

„Fünf Stufen führen ins Souterrain hinab, im Keller liegt der Club der Nationalen Front zur demokratischen Erneuerung Deutschlands. Ein kahler Raum, vier Sprelakarttische, Stühle, ein Wilhelm- Pieck-Bild an der Wand. Über einen der Tische ist eine Kreuzstichdecke gelegt, in einem Keramikleuchter brennt eine Haushaltskerze. An diesem Tisch sitzen vier Rentnerinnen und eine 30jährige Genossin, sie hat vier Kinder und den Parteiauftrag...“

Wer selbst die DDR durchlebt hat, dem rinnen bei solchen Beschreibungen kalte Erinnerungsschauer über den Rücken. Kein Zweifel: So war's! Irene Böhme, 1980 vom Osten in den Westen gegangen, wurde durch die wichtigen Essays „Die da drüben – Sieben Kapitel DDR“ im „Kursbuch“ bekannt. Jetzt entfaltet sie in ihrem Roman „Die Buchhändlerin“ ein detailliertes Bild der ersten beiden Nachkriegsjahrzehnte in einer Kleinstadt des DDR-Südens. Wie sich der nazistische Provinzmief in den sozialistischen Provinzmief transformierte, Vernichtungsterror gegen Juden und Jazzkultur durch Enteignungsterror gegen Kleinbürgertum und westliche Kunst ersetzt wurde, wird aus der Sicht Giselas, der damals etwa 50jährigen Besitzerin einer Buchhandlung, und der ihres Lehrmädchens Sigrid erzählt.

Gisela gehört zum tragischen Stamm ehrbarer Kleinbürger, die ihr humanistisch verpflichtetes Lebenswerk unter keinen Umständen preisgeben und sich auch von den übelsten Funktionärsschikanen nicht in den Westen treiben lassen. Die junge Sigrid dagegen gerät, da sie eigenes Geld haben und beruflich vorankommen will, fast automatisch ins Fahrwasser der neuen Ideologie. Dabei stellt Böhme differenziert dar, daß hier und da ein Anliegen des Sozialismus auch das Herz der Ladenbesitzerin erreicht. Andererseits werden auch die Verlockungen des Westens von der keineswegs dummen Sigrid nicht nur wahrgenommen, sondern ausgiebig genossen, wenn sich denn Gelegenheit bietet.

Obwohl Sigrid sich während ihres beruflichen Aufstiegs zur Kulturfunktionärin immer mehr darüber klar wird, daß der Weg zu eng, die Denk- und Kreativitätsverbote für Künstler zu zahlreich sind, wird sie bis zum Romanende – etwa 1963 – aus diesem Boot nicht aussteigen. Als Ausgezeichnete des Systems und eine, die zugleich um seine Grenzen weiß, wird sie das, was man heute unter einer „Mittäterin“ versteht. Einziger, aber nicht unbedeutender Lichtblick in diesen tristen weiblichen Lebensläufen ist die sexuelle Emanzipation, der einzige vielleicht echte Fortschritt, der schließlich auch das spießige Leben in der Provinz erträglich machen konnte.

Der Text ist mit viel Schwung und Tempo geschrieben, drastisch sarkastisch und spannend im Detail, wenn auch ohne eigentlich großen Spannungsbogen. Aber der fehlte ja auch der DDR selbst. Das kleinere Deutschland als hochgradig schizophrenes Gebilde darzustellen ist ein großes Thema, das Irene Böhme mit Brillanz angeht. Man muß aber wohl kein DDR-Nostalgiker sein, um sich daran zu stoßen, daß das Buch, das ganz aus der Sicht seiner Protagonisten spricht, in Wirklichkeit doch einen Blick der Autorin verrät, der dem überlegenen Blick einer Folkloreforscherin ähnelt: Sie schreibt aus der Perspektive von heute, nach der die DDR nie wirklich eine Chance hatte. Sosehr sich besonders die nicht aus der DDR stammenden Leser darüber amüsieren mögen, die unsäglichen Politformeln der Zeit in ihrer ganzen Schrecklichkeit oder Lächerlichkeit wortgetreu auf den Lippen der Protagonisten wiederzufinden, zuweilen sogar in den Briefen, die die Buchhändlerin Gisela in den Westen schreibt, so unwahrscheinlich ist gerade das gewesen. Sogar in der Provinz haben selbst dümmere Funktionäre bald gemerkt, daß sie die ideologische Propaganda nicht in Orginalverpackung ans Volk bringen konnten.

Unrealistisch ist nicht, daß der Westen aus der Sicht normaler DDR-Bürger fast nur Schokoladenseiten hatte. Daß aber eine der wenigen West-Szenen, in denen es nicht ums Schlemmen in teuren Restaurants oder auf privaten Festen geht, ausgerechnet das Vertreiben eines neonazistischen Verlages durch gutbürgerliche Verleger auf der Frankfurter Buchmesse darstellen mußte – als ob das die Normalität gewesen sei! –, gibt dem Buch eine peinliche, ärgerliche Schlagseite. Sabine Kebir

Irene Böhme: „Die Buchhändlerin“. Roman. Rowohlt Berlin, Berlin 1999, 384 Seiten, 39,80 DM