Turnschuh, Ketchup und Gebete

Auf dem Campus der Universität Teheran wird heute manches laut gesagt, was früher nur geflüstert wurde. Auch Bücher des Erzfeindes USA werden gern gekauft. Doch ist das die Revolution der Revolution? Eine Reportage über rivalisierende Politgruppen, studentische Liebschaften und Jeans unterm Islamistengewand  ■ von Thomas Dreger

Die Inschrift ist fast so alt wie die Islamische Republik und entsprechend verblichen. „Eine Wissenschaft, die uns von Amerikanern oder Russen abhängig macht, ist eine schändliche Wissenschaft, die uns vernichten wird“, hat Irans Revolutionsführer Ajatollah Ruhollah Chomeini einst gesagt, und seine Anhänger pinselten den Spruch vor rund zwanzig Jahren über das Portal der Geisteswissenschaftlichen Fakultät der Universität Teheran. Nebenan, in der zur Buchmesse umfunktionierten zentralen Moschee der Hochschule, werden heute aus dem Amerikanischen übersetzte Computerhandbücher verkauft.

„Wir haben nichts gegen Wissenschaft, egal wo sie herkommt“, konterkariert Wahide den Chomeini-Spruch. „Wissen ist Wissen. Wissenschaft ist Wissenschaft.“ Die 22jährige Medizinstudentin sitzt auf einer Bank und blinzelt in die Frühlingssonne. Trotz der an der Universität geltenden strengen Bekleidungsvorschriften lugen unter ihrem schwarzem Kittel Turnschuhe und zwanzig Zentimeter Jeans hervor – ein untrügliches Zeichen, daß Wahide nicht zu den Bannerträgern der Islamischen Republik gehört.

Doch entgegen dem Klischee von der iranischen Jugend, die sich nicht mehr um Revolution und ihre Werte schert, empfindet Wahide auch Hochachtung vor Chomeini: „Ich war damals klein und erinnere mich an nichts mehr, aber ich bin sicher, daß er ein guter Führer war. Er hat es geschafft, 40 Millionen Menschen für die Revolution zu vereinigen. Das war genial.“

1,2 Millionen der inzwischen fast 70 Millionen IranerInnen studieren derzeit; davon knapp 400.000 in der Hauptstadt Teheran. Über die Hälfte der BürgerInnen der Islamischen Republik hat die Revolution 1979 nicht bewußt oder gar nicht miterlebt. Ihnen die Ideale der Bewegung gegen den von den USA und den westeuropäischen Staaten unterstützten Diktator Schah Resa Pahlavi zu vermitteln gehört zu den zentralen Erziehungsaufgaben. „Das wird immer schwieriger“, räumt ein Dozent ein. „Die meisten Studenten kennen nur das Heute und wissen nicht, daß es früher noch viel schwerer war.“

Auf dem grünen Universitätsgelände haben sich StudentInnen, streng nach Geschlechtern getrennt, an einem beruhigend plätschernden Springbrunnen niedergelassen. Sie lesen in ihren Büchern, Zeitungen oder haben sich zum Nickerchen lang auf den Bänken ausgestreckt.

An Heizungsrohren entlang, deren Isolierung in Auflösung begriffen ist, geht es über einen Innenhof zur Cafeteria. Schmale, brusthohe Tische mit schäbigen Aluminumhockern stehen ungemütlich in Reih und Glied. Hinter einer Theke produziert ein Angestellter in einem ehemals weißen Kittel wie am Fließband Sandwiches und Hamburger, das Stück zu umgerechnet fünfzig Pfennig. Dazu gibt es Beuteltee. An einer Säule hängt der Hinweis auf den Hollywoodstreifen „Nicht ohne meine Tochter“. Anschließend soll der iranische Ex-Gatte von Betty Mahmudi das im Film vermittelte Bild zurechtrücken.

In einer Gruppe sitzt Farhad und kaut an einem Sandwich des Typs „Sossis Cocktail“, einer Mischung aus angebratener Geflügelwurst, Zwiebeln und einer gehörigen Portion Ketchup, der hier schlicht „Sauce“ heißt. „Die Studienbedingungen sind so lala“, meint der 25jährige in Lederjacke und mit Gel im Haar. So richtig schwierig werde es nach dem Abschluß. Als angehender Ingenieur habe er im Iran schlechte Berufsaussichten – wie fast alle AkademikerInnen. „Vielleicht gehe ich ins Ausland, vielleicht studiere ich weiter, vielleicht bekomme ich Arbeit“, sagt er.

Am liebsten jedenfalls ginge er nach Kanada, weil Iraner für den nordamerikanischen Staat noch relativ leicht ein Visum bekommen würden. Und warum überhaupt ins Ausland? „Ich will andere Welten sehen. Das hier ist eine Welt mit ihren Problemen. Ich will auch andere Welten mit ihren Problemen sehen.“ Zu den Problemen in der Islamischen Republik will sich Farhad nicht auslassen. Während seine Kommilitonen interessiert mithören, sagt er mit zitternden Händen: „Alle gesellschaftlichen Probleme hängen mit politischen Problemen zusammen. Deutlicher möchte ich mich nicht ausdrücken.“

„Sie wollen reden, aber ganz soweit sind sie noch nicht“, flüstert eine Ex-Studentin, die das Gespräch mitgehört hat. „Die Angst vor Sanktionen ist noch zu groß.“ Doch es gibt auch junge AnhängerInnen der Islamischen Republik. Nassrin und Farideh, beide Anfang Zwanzig, zum Beispiel, die vor der Medizinischen Fakultät stehen. Kein Härchen lugt unter dem Hidschab der jungen Frauen hervor, keine Spur von Schminke ist auf ihrem Gesicht zu sehen. Ihre schwarzen Umhänge reichen bis zu den Knöcheln, und zur Sicherheit wird auch noch ein Zipfel des Stoffes mit den Zähnen festgehalten.

„Mit diesem vollständigen Hidschab können wir hier an der Universität bei allen Aktivitäten mitmachen. Das gibt uns viel Freiheit“, erklärt die Pharmaziestudentin Nassrin. Die islamische Kleiderordnung schütze Frauen.

Kontakte zum männlichen Geschlecht, die über den Studienalltag hinausgehen, sind für die beiden Studentinnen eine Ausnahme. Und: Ihr Zukünftiger müsse in jedem Fall „religiös sein und zu den Idealen der geistlichen Führung stehen“ – sprich zu dem konservativen religiösen Oberhaupt Irans, Ajatollah Ali Chamenei.

Herzensangelegenheiten auf den abgesessenen Hörsaalbänken gehen in diesen Kreisen ausschließlich vom Mann aus. Und der Weg ist kompliziert. Verliebt sich ein Student in eine der rigoros verschleierten Frauen, führt die Anbahnung einer Beziehung zumeist über einen Dozenten oder eine Dozentin. Die sprechen die Studentinnen an. Bei Gefallen organisieren die jungen Frauen ein Treffen mit den eigenen Eltern. Bis zur Hochzeit sind dann oft nur wenige Worte zwischen den Brautleuten gewechselt worden.

Für Politik interessieren sich Nassrin und Farideh eher nicht. Doch wenn sie überhaupt mit einer Gruppierung an der Uni sympathisieren, dann mit den Bassidsch. Denn das seien „ehrliche Menschen, die religiöse Inhalte verbreiten“.

Die Bassidsch wurden während des Krieges gegen den Irak von Chomeini als „Freiwillige“ an die Front geschickt. Heute machen sie vor allem Jagd auf jene, die die strengen Bekleidungs- und Verhaltensvorschriften zu leger auslegen. Seit Ende vergangenen Jahres existiert der islamistische Stoßtrupp auch ganz offiziell an den Universitäten, mit eigenen Büros und staatlich finanziert – ein Zugeständnis an das konservative Establishment.

In der Geisteswissenschaftlichen Fakultät residieren die Jungrechten hinter einer Metalltür, direkt neben der Eingangshalle. An einem Schwarzen Brett sind Zeitungsartikel der religiösen Kampfpresse angeheftet, die sich über die als Feministin verschriene Tochter des früheren Präsidenten Rafsandschani, Faiseh Haschemi, und den reformfreudigen Ex-Innenminister Abdullah Nuri lustig machen.

Doch im Gespräch mit ausländischen Besuchern geben sich die Hüter der islamischen Zucht und Ordnung zahm. „Wir verteidigen die Errungenschaften der Revolution“, doziert der 23jährige Chemiestudent Ahmad. „Wir machen vor allem kulturelle Sachen. Wir versuchen, uns an der Meinung der religiösen Führung zu orientieren.“

Das karge Büro der Bassidsch ist mit Bildern von im Krieg gefallenen „Märtyrern“ und Führer Chamenei tapeziert. Fotos des reformorientierten Präsidenten Mohammad Chatami fehlen dagegen. „Wir sind politisch unabhängig, Chatami ist aber eine politische Person“, erklärt Ahmad und vergewissert sich dabei durch Blickkontakt zu einem älteren Bassidsch, daß er auch das Richtige sagt. Er persönlich „respektiere Chatami“, ja, er freue sich sogar, „daß eine solche Person an der Macht ist“. Es ist ein zentraler Erfolg Chatamis, daß sich fast zwei Jahre nach seiner überraschenden Wahl kaum einer seiner Widersacher mehr traut, öffentlich gegen den Hoffnungsträger Stellung zu beziehen.

Studenten, die die Autorität des Religiösen Führers anzweifeln, würden zwar toleriert, erklärt Ahmad. Doch: „Wenn sie nicht im Rahmen der Gesetze handeln und die Universität als Mittel nutzen, um Konflikte zu schüren, dann gehen wir anders mit ihnen um.“ Anders? „Wir sagen der Universitätsleitung Bescheid und fordern, daß mit ihnen im Rahmen der Gesetze verfahren wird.“

Heschmatollah Tabarsadi hat am eigenen Leib den Umgang der Bassidsch mit Andersdenkenden erfahren müssen. Der heute 39jährige Generalsekretär des Islamischen Studentenverbandes gehört zu den entschiedensten Kritikern der real existierenden Islamischen Republik. Der einstige glühende Anhänger Chomeinis nennt die Herrscher Irans inzwischen „Despoten“ und fordert die Abschaffung des übermächtigen Religiösen Führers per Referendum. 1997 brachte dem studierten Ingenieur und Chefredakteur der Zeitung Pajam-e Daneschju (Mitteilung der Studenten) diese Position einen Besuch von Bassidsch und Mitgliedern der Ansar-e Hisbollah (Anhängern der Partei Gottes) ein. Die Redaktionsräume seiner Zeitung wurden verwüstet, Tabarsadi landete schwer verletzt im Krankenhaus.

Die Bassidsch sind berüchtigt. Mit Schlagstöcken und Stahlstangen bewaffnet, stürzen sie sich auf ihre politischen Gegner. „Das sind Tiere, keine Menschen“, berichtet ein Student, der nicht genannt werden möchte. Hooligans – im selbsterteilten Auftrag Gottes.

Aus Angst vor weiteren Angriffen versteckt sich der Studentenführer Tabarsadi nun in einem Teheraner Vorort und traut sich nicht einmal auf den Balkon seines mit einer schweren Tür verbarrikadierten Unterschlupfes. An der Wand des Wohnzimmers haben seine Gastgeber ein Gemälde von Dariusch Foruhar aufgehängt. Der Oppositionelle und seine Frau, die Frauenrechtlerin Parvaneh Eskanderi, wurden Ende 1998 ermordet und grausam verstümmelt.

Während Obst und Gurken gereicht werden, erzählt Tabarsadi, daß die Redaktionsräume gekündigt wurden. Das Gebäude gehörte einer religiösen Stiftung. Dennoch erscheine seine Zeitung unter dem veränderten Titel Nedai-e Daneschju (Appell der Studenten) noch immer. Fotokopiert und halb legal.

Tabarsadi, inzwischen Vater von sechs Kindern, ist noch immer tief gläubig. Sein zentraler Kritikpunkt ist nicht die Religiosität: Ihn stört das „Welajat-e Faqih“, die Statthalterschaft der Rechtsgelehrten. „Welajat-e Faqih bedeutet die Herrschaft des Klerus. Aber eigentlich sollte das Volk herrschen.“ Die Mehrheit der Bevölkerung – und besonders der StudentInnen – habe längst mit dieser Idee abgeschlossen. Statt eines islamischen Staats wolle sie „eine ganz normale Republik“, die irgendwie islamisch geprägt sein soll. Daß solche Ansichten, öffentlich geäußert, lebensgefährlich sind, ficht ihn nicht an. „Na und?“ antwortet er ganz in der Tradition schiitischer Märtyrer. „Jeder Kampf birgt in sich die Gefahr des Todes.“

Der politische Gegenpol zu den konservativen Bassidsch residiert in einem Gebäude im Süden Teherans: Der Studentenverein „Tahkim-e Wahdat“, „Festigung der Einheit“. Ein steriles Arrangement aus einem weißbeschichteten Konferenztisch und drum herum aufgereihten Stühlen beherrscht das Büro. Hier könnte auch der Asta einer beliebigen deutschen Uni tagen.

Wir wollen im Iran eine zivile Gesellschaft“, erläutern Ali Resa und Mortesa vom Vorstand der Organisation. Beide sind Ende Zwanzig und tragen unauffällige Tuchhosen und offene Hemden. Und sie werden für iranische Verhältnisse ungewöhnlich deutlich: „Die Bassidsch arbeiten unter der direkten Regie der Revolutionswächter, und die sind wieder dem Religiösen Führer unterstellt. Man kann sagen, daß die Bassidsch im Grunde vom Religiösen Führer angeleitet werden.“ Eine klare Schuldzuweisung an Religionsführer Chamenei.

Doch die Tage dieser unheiligen Allianz zwischen dem alternden Chamenei und seinen pubertierenden Schlägern sind nach Ansicht der Studentenvertreter gezählt. Die Bassidsch kämen nicht aus dem Kreis der StudentInnen, sondern seien von außen installiert. Das hätten die meisten StudentInnen begriffen. „Wir bewegen uns in Richtung auf eine Republik, in Richtung Demokratie“, lautet ihr optimistisches Fazit. Dazu wird zuckersüßes orientalisches Gebäck gereicht, das die Zähne verklebt.

Thomas Dreger, 34, ist Nahostredakteur und seit 1991 bei der taz