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: Palimpseste

■ Re-Visionen, der nachträgliche Blick aufs Leben. Autobiographische Literatur

Palimpseste sind antike oder mittelalterliche Schriftstücke, von denen der ursprüngliche Text getilgt und die danach neu beschriftet wurden. „Das ist ziemlich genau das, was ein Autor wie ich ohnehin tut“, schreibt Gore Vidal in seiner eben deshalb „Palimpsest“ betitelten Autobiographie. „Er geht vom Leben aus; er verfaßt einen Text; dann folgt eine Re-Vision – buchstäblich eine zweite Sicht, ein nachträgliches Überarbeiten, bei dem vom Original einiges, aber nicht alles gelöscht und die erste Textschicht mit etwas Neuem überschrieben wird. Memoiren bestehen letztlich aus zahlreichen Tilgungen und Einfügungen.“ Denn auch die eigenen Erinnerungen unterliegen im Laufe eines Lebens zahlreichen Wandlungsprozessen.

Gore Vidal, Sproß einer einflußreichen Ostküstenfamilie, schreibt mit „Palimpsest“ die Geschichte seiner ersten vierzig Lebensjahre, und es ist eine Geschichte von Geist und Macht, Ungeist und Ohnmacht. Die Kennedys spielen mit, aber auch Anais Nin, Eleanor Roosevelt ebenso wie Jack Kerouac. „Palimpsest“ ist ein Panorama der amerikanischen Oberschicht.

Eine zweite Begriffsdefinition von Palimpsest stammt aus der Geologie und meint die Reste des alten Ausgangsgesteins in umgewandeltem Gestein. Bezogen auf Strategien autobiographischen Schreibens gewinnt diese Definition einige Aussagekraft, wenn das eigene Leben als Ausgangsgestein zum Romanstoff wird, zu umgewandeltem Gestein der Fiktion. Ludwig Harig hat immer schon so gearbeitet, indem er die eigene Biographie und die seiner Familie romanhaft verwertete. „Wer mit den Wölfen heult, wird Wolf“ liefert ein Selbstporträt des Autors in den 50er Jahren. Bei Kriegsende muß sich der bekennende Nazi neu orientieren und entdeckt das Land der Freiheit und des Wirtschaftswunders, instrumentiert von Jazz und Rock'n'Roll, ausgestattet mit moderner Kunst, aber auch mit Nierentischen und Resopalküchen, kulturell eingespannt zwischen Schlagerseligkeit und Bertolt Brecht.

Seine Kindheit und Jugend in der DDR während der 50er und 60er Jahre verarbeitet der als Liedermacher bekannte, wenn auch nicht unbedingt allseits beliebt gewordene Stephan Krawczyk in seinem Roman „Das irdische Kind“. Der Roman kommt unsentimental, präzise und atmosphärisch dicht daher und hat mir als eingeborenem Wessi sehr viel über das Lebensgefühl meiner Generationsgenossen im anderen deutschen Staat vermittelt.

Nüchtern und ehrlich, trocken und redlich ist Günter de Bruyns Autobiographie „Vierzig Jahre“ ausgefallen; nicht zufällig heißt sie im Untertitel „Ein Lebensbericht“, und im Text bezeichnet der Autor sein Projekt fast bürokratisch als „Lebenszwischenbilanz“, bildet das Buch doch die Fortsetzung von de Bruyns „Zwischenbilanz“. Jetzt geht es um die vierzig Jahre, die der Autor in der DDR verbrachte; es geht um Begegnungen mit Wolf Biermann und Christa Wolf, aber auch mit Funktionären wie Hermann Kant und Klaus Höpcke. Und es geht um die Entwicklung de Bruyns vom Bibliothekar zum Schriftsteller. „Spannung“, sagt er, „bekommt jedes Leben durch Lebensziele“ – gelungene wie gescheiterte.

„Das gute Leben“ nennt Fred Wander seine Erinnerungen an einen überaus verschlun- genen, abenteuerlichen und komplizierten Lebensweg. Geboren 1917 in Wien, verließ er bereits als Vierzehnjähriger sein Elternhaus und vagabundierte als Gelegenheitsarbeiter durch Europa. Da er sich während des Kriegs in Frankreich aufhielt, wurde er verhaftet und nach Auschwitz und Buchenwald deportiert. Nach seiner Befreiung lebte er als Zeichner, Fotograf und Journalist wieder in Wien, ging aber 1958 in die DDR, weil er die Schriftstellerin Maxie Wander geheiratet hatte. 1983 kehrte er nach Wien zurück. Seine Autobiographie ist ein Dokument selbstgewählter Heimatlosigkeit, eine Sympathieerklärung an alle Herumtreiber und Vagabunden – ein Buch über die Ränder der Gesellschaft, das auch sehr kluge Reflexionen über Fiktion und Erinnerung enthält, also die beiden Pole, zwischen denen Autobiographien eingespannt sind. „Ohne Erinnerung und Vorstellungskraft“, heißt es einmal programmatisch, „ist der Mensch kein Mensch, sondern ein Zombie, ein Wesen, das von seiner Seele verlassen wurde. Wir treffen eine geheime Wahl, wenn wir uns erinnern, du kannst das unbewußte Wertsystem einer Person ermessen, wenn du ihre Erinnerungen hörst.“ Klaus Modick

Ludwig Harig: „Wer mit den Wölfen heult, wird Wolf“. Fischer TB. 18,90 DM

Günter de Bruyn: „Vierzig Jahre“. Fischer TB. 16,90 DM

Fred Wander: „Das gute Leben“. Fischer TB. 19,90 DM

Stephan Krawczyk: „Das irdische Kind“. Serie Piper. 16,90 DM

Gore Vidal: „Palimpsest“. btb. 24 DM