Ein europäisches Lehrstück

■ Mit der Agenda 2000 knüpft die EU an ihr ursprüngliches großes Ziel an, auf dem Kontinent eine dauerhafte Friedensordnung zu schaffen

Schärfer als in den Tagen des Berliner EU-Sondergipfels hätte der Kontrast zwischen „drinnen“ und „draußen“ innerhalb Europas nicht hervortreten können: drinnen die mühseligen und oft kleinlich anmutenden, in den einzelnen Mitgliedsstaaten aber oft als Existenzfragen gesehenen Auseinandersetzungen um Geldmengen, mit denen vielleicht gerade mal drei der neuen amerikanischen B2-Bomber finanziert werden könnten. Draußen die systematischen Vertreibungswellen im Kosovo und dann die Nato-Bombardierungen serbischer Militäreinrichtungen, um sie doch noch zu beenden. Scharf auch der Kontrast zwischen dem Militärbündnis der Nato mit einer eindeutigen Führungsmacht, ohne die es nicht funktionierte, und der Zivilmacht EU, deren Charme in ihrer anarchischen Führungslosigkeit besteht. Die Europäische Union hat inzwischen einen so dichten Vertrags- und Rechtsraum geschaffen, daß in ihm zwar heftiger Streit nicht ausgeschlossen ist, er aber meist nur um Geld geht. Und auch dieser Streit ist so kleinlich nicht, wie es auf den ersten Blick aussieht. Bei der Agenda 2000 geht es ja darum, im Inneren der EU Bedingungen zu schaffen, die es ihr ermöglichen, den Beitrittswünschen der Länder zu entsprechen, die sich in ihrem Rechtsraum einordnen wollen. Damit knüpft die EU an ihr ursprüngliches großes Ziel an: auf einem Kontinent, in dem der Krieg als Naturzustand galt, eine dauerhafte Friedensordnung zu errichten. Wie anspruchsvoll dieses Ziel immer noch ist, zeigen die Ereignisse auf dem Balkan.

Die Ereignisse „draußen“ relativieren auch die Rede von der „größten Krise“ seit Gründung, in die die EU mit dem Rücktritt der Kommission in der letzten Woche geraten sei. Die Krise schwelte lange, bevor sie offen ausbrach, ermöglichte aber auch eine Lösung. Daß in einer Verwaltung Mängel auftreten, die wie im Fall von Edith Cresson den Rang eines politischen Skandals erreichen, ist nicht verwunderlich. Wenn eine Kontrolle existiert, können die Fehler, einmal aufgedeckt, abgestellt werden. Zu einem institutionellen Konflikt zwischen Kommission und Parlament führten nicht diese Verfehlungen, sondern der selbstherrliche Umgang mit ihnen durch die Kommission. Sie reagierte zunächst überhaupt nicht und dann hinhaltend auf die Kritik aus dem Europäischen Parlament. Das Parlament dagegen fühlte sich in seinem Einspruch durch die neuen Rechte, die ihm der Amsterdamer Vertrag in Zukunft einräumt, bestärkt. Um den Konflikt zu entschärfen, wurde auf Vorschlag der deutschen Präsidentschaft eine neutrale Expertenkommission berufen. Das Ergebnis ihrer Prüfung legte der Kommission nahe, eine weitere Runde der Auseinandersetzung mit dem Parlament zu vermeiden.

Mit den stärkeren Mitspracherechten des im Juni neu zu wählenden Parlaments bei der Berufung und Kontrolle der Kommission sind zwar noch nicht die Ursachen beseitigt, die zu den Mängeln in der Verwaltung führen. Es wird aber ein Zusammenwirken zwischen Parlament und Kommission erzwungen, das verhindern kann, daß eine verstockte Kommission und ein aufbegehrendes Parlament in eine derart explosive Auseinandersetzung geraten. Und mit dem Vorschlag des Rates, Romano Prodi zum Präsidenten der Kommission zu berufen, sind auch die personellen Voraussetzungen verbessert, die Verwaltung selbst zu reformieren.

Die zurückgetretene Kommission, die bei der Einführung des Euro gute Arbeit leistete, hatte von vornherein ein Handicap. Ihr Präsident stand im Ruch, ein Verlegenheitskandidat zu sein. Im Parlament hatte er Schwierigkeiten gehabt, sein Kollegium durchzubringen, auf dessen Zusammensetzung er im übrigen kaum Einfluß hatte. Auch das wird sich jetzt ändern. Die „schwerste Krise“ der Union wird, soweit absehbar, heilsame Auswirkungen haben. Kommission wie Parlament könnten gestärkt aus ihr hervorgehen.

Damit wird erneut sichtbar werden, daß die Achillesferse der EU- Konstruktion ihr höchstes Organ selbst, die Repräsentation der Staaten, bleibt. Im Europäischen Rat wird immer wieder mit dem Widerspruch umzugehen sein, daß eine Vereinigung von Staaten sich im Prinzip vom Konsensverfahren nicht wird lösen können, der Effizienz zuliebe aber um Mehrheitsentscheidungen praktisch nicht herumkommt. Wo, wie bei der Agenda 2000, das Konsensprinzip auch formell gilt, werden Entscheidungen mit jedem neuen Mitglied schwieriger. Und wo Mehrheitsentscheidungen möglich sind, laufen diese immer Gefahr, die grundlegende Legitimation der Union, die in der Zustimmung aller liegt, zu untergraben.

Diesem Dilemma der EU, aus dem nur der Sprung in eine bundesstaatliche Verfassung befreien könnte, der wiederum gemeinsam nicht zu schaffen sein wird, ist auf absehbare Zeit nicht zu entkommen. Es gibt aber Mittel, um mit ihm leben zu können. Eines ist die starke Rolle des Europäischen Gerichtshofes, ein anderes das alleinige Initiativrecht der Kommission. Auch die Unabhängigkeit der Europäischen Zentralbank in der Erfüllung ihrer geldpolitischen Aufgaben ist ein solches Mittel. Wichtig wird in Zukunft die Notwendigkeit der Zustimmung des Europäischen Parlaments bei Mehrheitsentscheidungen des Rates werden. Zu stottern scheint zur Zeit der „deutsch-französische Motor“, der auch zu den Mitteln gehört, Konsens durch sanften Druck zu erwingen und Mehrheitsentscheidungen nicht bis zum Bruch zu treiben.

All diese Mittel können das EU- Dilemma nicht beseitigen, das der Spannung zwischen (nationaler) Legitimität und (europäischer) Effizienz entspricht. Man mag es als Folge eines Geburtsfehlers der europäischen Einheit entlarven oder als Nebenfolge einer Geburtshilfe preisen, ohne die die Einigung nie in Gang gekommen wäre. Ändern wird beides nichts. Unverstanden nährt dieses Dilemma eines „Staatenverbundes“ in der national segmentierten europäischen Öffentlichkeit die Frustrationen über europäische Entscheidungsprozesse, deren unter verschiedenen Blickwinkeln allemal unbefriedigende Ergebnisse dann doch wieder als Diktat der „Brüsseler Bürokratie“ Ärger wecken. Europäische Entscheidungen sind technisch betrachtet immer „suboptimal“. Ein durch Staaten stark geschützter Pluralismus erzwingt extrem politische Entscheidungen. Die rot- grüne Regierung hat in Berlin einen ersten europapolitischen Härtetest bestanden. Der Kanzler wird aber wohl das nächste Mal im Vorfeld den Mund weniger voll nehmen. Joscha Schmierer