Fragen nach Krieg und Frieden. Protokoll aus dem Erzgebirge

In der Schneeberger Jägerkaserne wurden 280 Bundeswehrsoldaten für ihren friedlichen Einsatz in Makedonien ausgebildet. Jetzt, wo die Nato Bomben auf Jugoslawien wirft, fangen die Menschen in dem sächsischen Landkreis an, eine Haltung zu finden. Ihre Stimmungen schwanken erheblich. Über das erste Wochenende nach den Angriffen  ■ Jens Rübsam (Text) und Wolfgang Borrs (Fotos)

Reuters, Samstag, 10.59 Uhr: „UÇK-Kreise: Serben töten Hunderte Kosovo-Albaner“

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Der Tip kam von einem Genossen. Am Telefon hatte der PDSler gefrotzelt: „Befragen Sie doch mal den Uwe zum Kosovo-Krieg.“ Den Uwe? „Ja, den Uwe Kaettniß! Der ist doch jetzt bei den Grünen. Der war doch mal Bausoldat! Fragen Sie den.“

Nach Sachsen. Nach Aue. Reden über den Krieg. Überm Erzgebirge döst die Sonne. Am Wegesrand kriecht der Schnee. An Laternenmasten schaukeln die Plakate: „Potenz-Fete. Tanz den Viagra- Ball“. Aus den Häusern treten Menschen. Auf den Straßen lärmen Autos. Es ist Samstag morgen. Uwe Kaettniß, 36, hat noch etwas zu erledigen. Treffpunkt? „Die Firma, gleich hinterm Ortsausgangsschild!“ Links ein Steinbruch. Rechts ein Kohlenhandel, die Firma. Eisentor. Bahnschiene. Kohlenberge. Am Ende ein Haus. Graue Fassade. Klapprige Türen. Nobles Büro: gerahmte Fotos, Antikschrank, Antikkommode, rotes Kanapee, zwei Rattansessel. Uwe Kaettniß läßt sich fallen.

Bausoldat, hatte der PDSler gesagt, jetzt grüner Politiker. Leiser Spott lag in seinen Worten. Die PDS sagt Nein zum Krieg. Die Grünen – zugegeben, nicht alle – nehmen den Angriff der Nato auf Jugoslawien hin, auch Uwe Kaettniß. „Was“, fragt er in den Raum hinein, „was gibt man auf? Seine pazifistische Haltung? Oder ein ganzes Volk?“ Er sucht nach einer Antwort. Er findet eine: „Die radikalen Pazifisten sind doch bereit, die Kosovo-Albaner zu opfern.“ Ob er jetzt zu „boshaft“ sei, will er wissen. Er schenkt Kaffee nach.

Uwe Kaettniß, Ende der achtziger Jahre Bausoldat. Er verweigert den Dienst in der Nationalen Volksarmee, den Dienst an der Waffe. Den Männern auf dem Wehrkreiskommando sagt er: „Ich nehme keine Waffe in die Hand.“ Mit 25 wird er eingezogen. Wer im real existierenden Sozialismus Bausoldat ist, ist in Wirklichkeit Häftling im Arbeitslager. Auf Rügen muß er Kabelgräben ziehen, in Merseburg Handwerksarbeiten ableisten. Morgens um halb fünf geht es auf die Baustelle, abends um halb fünf geht es zurück. Um halb sieben ist Nachtruhe. Der Ausgang wird knapp gehalten. Der Urlaub sowieso. „Selbstzweifel mußte man verdrängen, sonst wäre man kaputtgegangen.“ Diese 18 Monate hat er durchgestanden. Er geht zurück zum VEB Kohlenhandel Karl-Marx-Stadt, Betriebsteil Aue. Heute ist er der Inhaber, mit vier Angestellten.

Heute ist Uwe Kaettniß auch Fraktionsvorsitzender der Bündnisgrünen im Kreistag Aue- Schwarzenberg und „von einigen Idealen abgerückt“. Waffen und Gewalt heißt er nicht gut. Eigentlich. „Die Frage ist aber“, sagt er im bestimmten Ton, „wie verhalte ich mich in einem real existierenden Konflikt?“ Im Kosovo werden Häuser angezündet, werden Menschen vertrieben und ermordet. Diese Fernsehbilder sind ihm nie aus dem Kopf gegangen. Was also tun? Zusehen? Eingreifen? Was nützen Ideale? „Militärisches Handeln ist notwendig geworden“, zieht er nun brav diesen Satz zu Hilfe, der klingt wie ein Zitat aus einer Pressemitteilung der Grünen, der aber vielmehr die eigene Hilflosigkeit zum Ausdruck bringt. Auch in Ruanda wurde gemetzelt und auch in Tschetschenien – beide Male hat kein Bündnis eingegriffen.

Jetzt greift die Nato ein, jetzt sind Deutsche auf dem Balkan, jetzt „sage ich Ja zum Krieg“. Uwe Kaettniß macht eine Pause. Er überlegt. Er fragt sich: „Wo mache ich da die Grenze?“ Er findet keine Antwort.

Vielleicht gibt es in diesen Tagen keine letzten Antworten. Kann sein, daß Uwe Kaettniß, wie er so dasitzt, versunken in dem großen Rattansessel, ein gutes Beispiel dafür ist. Mal sagt er: „Krieg kann keine Option des politischen Handelns sein.“ Mal: „Aber in diesem Fall sehe ich das anders.“ Kann sein, daß Serbenführer Milošević nachgibt. Kann sein, daß den Nato-Bomben aus der Luft Schlimmeres folgen wird.

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AP, 13.08 Uhr: „Nato verstärkt Angriffe auf Jugoslawien“

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Der Weg ist leicht nicht zu finden. Vom Kohlenhandel quer durch Aue, am Bahnhof vorbei, einen holprigen Sandweg hinauf, Stopp auf der Höhe, vor einem Bahnübergang; durch die Schranke, über die Schiene, links ein altes Bahnwärterhäuschen, an der Klingel „Schwind-Schwindt“, hinterm Zaun ein Hund – ein Mann öffnet die Haustür, das muß er sein: dieser Rainer Schwindt, der vor acht Jahren, jeden Tag, gut zwei Wochen lang, auf dem Auer Postplatz gegen den Golfkrieg antrommelte, in gleichmäßigem Rhythmus, in schwarzer Kutte und mit einer Totenmaske vorm Gesicht. „Trommelnder Tod“ nannte er die Aktion.

In Jugoslawien ist Krieg. „Demonstrieren Sie wieder?“ – „Kommen Sie vorbei“, hatte Rainer Schwindt gesagt. Und eben: Der Weg sei schwer zu finden. Hatte das etwas zu bedeuten? Womöglich: daß er sich zurückgezogen hat?

Das alte Bahnwärterhäuschen ist noch im Umbau. Im Wohnzimmer: Pflanzen, große und kleine, sehr viele. Auch viele Bücher. Ein altes Büffet. Es gibt Tee und Zigaretten, F6. Sieglinde Schwind, seine Freundin, setzt sich dazu. Eine Grüne. Eines von zwanzig Mitgliedern im Kreisverband Aue- Schwarzenberg. Rainer Schwindt schaffte nicht den Sprung vom Neuen Forum zu den Grünen: IMs wurden nicht aufgenommen. Eine lange Geschichte.

Vielleicht so erzählbar: Rainer Schwindt, Pionier, FDJler, „gesellschaftlich aktiv“, natürlich NVA- Soldat, „in der Überzeugung: Ich tue was Gutes. Ich trage dazu bei, daß das Kräftegleichgewicht zwischen Ost und West gewahrt wird.“ Schwindt ist auf Befehl fixiert. Als ihm ein Kamerad zuruft: „Zieh“, zückt er bedenkenlos seine Waffe und schießt. Getroffen. An der Schulter. Anklage wegen fahrlässiger Körperverletzung mit der Dienstwaffe. 15 Monate Militärstrafvollzug. Was als Jux gemeint war, endet im Knast. Blumen gießen, mit Gießkanne bei Regen.

Oktober 1989: Beim Neuen Forum ist Rainer Schwindt einer der Aktivsten. Wochenlang trommelt er 1991 gegen den Golfkrieg. Dann fliegt seine IM-Tätigkeit auf. Er zieht sich politisch zurück. Hätte gern weitergemacht. Nun ist wieder Krieg.

Sieglinde Schwind, 41, kramt eine aktuelle Presseerklärung der PDS hervor. „Krieg ist immer das Ende der Politik und allen Rechts“, steht darauf. Genau ihre Meinung. „Ich bin gegen den Krieg“, sagt sie streng. „Auch als Grüne werde ich keinen Funken Mitleid haben, wenn die ersten Zinksärge nach Deutschland kommen. Die Soldaten, die da runter sind, machen das freiwillig. Die wußten, als sie sich verpflichteten, daß ihr Dienst auf Krieg hinauslaufen kann und daß sie auf Menschen schießen müssen.“ – „Und daß Menschen zurückschießen“, ergänzt Rainer Schwindt.

Es klingelt. Eine Freundin kommt. Conny, eine Grüne, die einzige Grüne im Auer Stadtrat. Es wird diskutiert. Conny: „Ich bin innerlich zerrissen. Wenn ich etwas gegen den Krieg sage, fragen mich die Leute: Was willst du denn? Ihr habt doch mitgestimmt.“ Rainer Schwindt: „Helfe ich denn den Kosovo-Albanern, indem ich die Serben zusammenbombe? Für mich ist dieser Krieg ein Angriffskrieg, verbunden mit der Suche nach einem Feindbild. Die Nato muß ihre Existenz unter Beweis stellen.“

Die F6 gehen zu Ende. Debattiert wird jetzt über Aktionismus, und warum solche Demonstrationen wie beim Golfkrieg heute ausbleiben. „Ich habe Angst“, sagt Rainer Schwindt. „Nicht unbedingt Angst vor verbalen Angriffen, so nach dem Motto: Was willst du Stasischwein denn hier?“ Das wäre noch zu ertragen. „Ich habe körperliche Angst. Angst vor Übergriffen.“ Vor Rechten in der Stadt. Seine Freundin Siggi beruft sich auf ihre Kräfte: Wenige Mitglieder und viele andere Sachen, um die sie sich kümmern müsse. Um die Situation der Asylbewerber im Kreis. Die sind dieser Tage in den Hungerstreik getreten und auf die Straße gegangen. Sie fordern eine gerechtere Behandlung, bessere Unterbringung und Verpflegung.

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AP, 16.25 Uhr: „Serben im Ausland protestieren gegen Nato-Angriffe“

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Was er zum Thema zu sagen hat, hat er etwas ungelenk in ein blaßgrünes Heft geschrieben, damit er auch nichts vergißt. Eintrag Seite zwei: „Kein Nato-Flieger lehrt die Serben das Fürchten bzw. zwingt sie in Deckung und in Schützenlöcher.“ Auf Seite drei steht: „Verteidigungsminister Scharping rechtfertigt diesen offensichtlichen Angriffskrieg mit dem Schutz humanistischer Werte. Einer seiner Vorgänger im Amt, Reichswehrminister Noske, bedurfte solch hehrer Rechtfertigungsgründe noch nicht, als er deutsche Arbeiter niederschießen ließ. Er gab sich selbst die passende Bezeichnung: ,Einer muß der Bluthund sein.‘“ Stolz liest Josef Didier, 76, aus seinen Ausführungen vor und sagt: „Ich bin ein linker SPDler. Ich zähle mich zum Frankfurter Kreis. Aber das haben Sie ja gemerkt.“

Er reicht einen Brief über den Tisch; Absender: Konrad Gilges, SPD-Bundestagsabgeordneter. Sieben Parteifreunde erklären: „Bomben lindern keine Katastrophen.“ Die linken SPDler gehen auf Distanz zum Nato-Vorgehen. Josef Didier kann sich „in allen Punkten anschließen“.

Der Mann, der aussieht wie Louis Trenker in seinen besten Tagen, wohnt im Städtchen Schwarzenberg, nicht weit vom Foron- Waschmaschinenwerk, in einem Häuschen mit großem Garten, vielen Schneeglöckchen und noch mehr Krokussen, bunten Eiern an den kleinen Bäumen und einer großen Tanne vor dem Stubenfenster. Hier im Erker sitzt er oft, liest das Neue Deutschland, den Vorwärts, schreibt Buchrezensionen und schimpft auf die Partei. Auf die große SPD, die in den Krieg einstimmte. „Der ist nicht berechtigt. Die UÇK hat das Ding selber zum Überlaufen gebracht. Die ist auch hinterhältig. Die denken auch, sie sind die Sieger. In ihrer Mentalität sind die Völker dort doch alle gleich. Es gibt kein Gut und kein Böse.“ Er schimpft auf Kanzler Schröder, schimpft auf die lokale SPD, die ein Verfahren gegen ihn angestrengt hat wegen ehrlosen Verhaltens. Ein örtlicher Investor schmierte die Genossen, Didier deckte das auf, um zu verhindern, daß die es CDU tut. Schließlich war er 1989 an der Gründung der Schwarzenberger SDP beteiligt.

Im Garten tollen Kinder. Die Frau bringt Kaffee und Kuchen, Didier erzählt von früher. Vom Krieg, vom Hunger, von seinem Vater, der ein „Prolet“ war: Erst ist er für die KPD gelaufen, hat Flugblätter verteilt, um Geld zu verdienen, dann ist er für die Nazis gelaufen, um Geld zu verdienen. 1938 ist die Familie aus dem Saarland in die Altmark übergesiedelt. Er selbst ist 1947 in die SED ein –, drei Jahre später aber wieder ausgetreten, „wegen des Personenkults und der Spießigkeit“. Trotzdem bekommt er 1950 eine Friedensmedaille verliehen, vom Zirkel für dialektisch- historischen Materialismus. Vorn ist ein Doppelporträt Pieck/Stalin abgebildet, hinten die Friedenstaube. „Ich habe die Rückseite immer nach vorn gedreht.“ Man glaubt es ihm gern. Der Mann ist Marxist. Jeder dritte seiner Sätze scheint einem Lehrbuch entliehen. In seiner Stasi-Akte ist nachlesen: „Er besitzt theoretische Kenntnisse in Marxismus-Leninismus. Er versteht aber nicht, sie in die Praxis umzusetzen.“

Nun ist Krieg in Jugoslawien. „Eine friedliche Lösung sehe ich nicht“, befindet Josef Didier, „weil der Kapitalismus dazu nicht in der Lage ist.“ Was tun? „Milošević als Kriegsverbrecher ausschreiben. Seinen Tempel bombadieren.“ Die Illusion ist recht angenehm und weit verbreitet. Die Illusion von einem „sauberen Krieg“: Gezielte Angriffe auf Militärstützpunkte und das elegante Vorbeisteuern an Zivilisten. Bewaffnete Konflikte scheinen begrenzbarer als noch in den Jahren zuvor.

Alles gesagt? Noch ein Blick in das Schreibheft mit den kühnen Gedanken. „Gerechter Krieg ja, ungerechter nein. Der Rest wäre allerdings Auslegungssache des Stärkern“, hat Josef Didier „im Sinne der Leninschen Definition“ noch festgehalten. Gerechter Krieg in Jugoslawien? „Wenn das ein Verteidigungskrieg wäre, würde ich den billigen.“ Aber: „Ich habe ein ungutes Gefühl.“

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AP, 18.55 Uhr: „Nato startet vierte Angriffswelle“

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Kein Wort in den letzten Tagen darüber, was wirklich los ist. Nur die üblichen Antworten: „Es geht gut. Es ist alles ruhig. Ich habe viel Fernsehen geguckt. Das ist Essen prima und reichlich.“ Höchstens ein paar Wünsche: „Schick mir was Süßes. Mein Portemonnaie ist kaputt. Ich kann ein neues gebrauchen.“ Und immer dieselben Fragen: „Wie geht's dir? Was macht die Mietze?“ Abend für Abend hat Claudia Clemens, 22, diese Antworten und diese Fragen aus dem Handy gehört. Nunmehr hat sie sich damit abgefunden, nach vier Wochen. „Mark darf nichts sagen. Die haben jetzt eine Nachrichtensperre bekommen. Es gibt die Befürchtung, daß die Serben die Handys abhören.“ Irgendwie sind dann doch am Monatsende 577 Mark Telefongebühren zusammengekommen.

280 Angehörige des Schneeberger Gebirgsbataillons 571 sind im makedonischen Tetova, nahe der Grenze zum Kosovo, stationiert, auf Abruf für eine Friedenstruppe. Alles Freiwillige wie der Hauptgefreite Mark Clemens, 25, der Mann von Claudia Clemens.

Längst hat sich die Dunkelheit auf Schneeberg gelegt. Im Ortsteil Grießbach wohnt Claudia Clemens seit zwei Monaten auf 140 Quadratmetern unterm Dach eines Neubaublocks: braune Einbauküche, Vitrinen mit akurat geordneten Gläsern, ein Fernseher, beinah so groß wie eine Wäschetruhe, weiße Gardinen mit lila Stores, auf dem Bett ein Plüschtier, so groß wie ein Schaf, ein Meerschweinchen, eine Katze, die Mietze, zwei Wellensittiche. Wenn die Tage lang werden, veranstaltet Claudia Clemens Wettrennen im Hausflur: Katze gegen Meerschweinchen. Meist sind die Tage lang. Claudia Clemens ist arbeitslos, sie ist neu in Schneeberg, sie kennt fast niemanden, nur ein paar Leute im Haus. Die sehen sie, wenn sie „14- bis 20mal am Tag mit der Katze runtergeht“. Ansonsten? „Fernsehen.“ Stundenlang. Tagelang. „Freunde einladen. Ich kann nicht allein sein.“ Jetzt erst recht nicht.

Als vorige Woche die erste Meldung von dem Nato-Angriff kam, „bin ich nur auf- und abgegangen und habe Marks Nummer gewählt“. Lange fünf Stunden ist sie nicht durchgekommen. Dann war er dran. „Ich habe gemerkt, daß er Angst hat, aber er wollte es nicht zeigen. Er wollte mich beruhigen.“ Genutzt hat es nicht viel. Jeden Tag diese Bilder im Fernsehen.

Sie holt das Hochzeitsfoto. Sie in Weiß, er in Schwarz. Einen Monat bevor er zur Bundeswehr ging, haben sie geheiratet. „Mark wollte zur Bundeswehr, irgendwo ist das ja eine gesicherte Arbeitsstelle“, sagt sie. Daß er unterschreibt, auch für einen Kriegsfall zur Verfügung zu stehen, darüber haben sie nicht viel nachgedacht. Schon mehr über das Bewerbungsgespräch und die zu erwartende Frage: „Würden Sie auf Menschen schießen?“ Sie sagt, Mark habe lange überlegt. Sofort ja zu sagen, das hätte nach Gewaltbereitschaft geklungen. Sofort nein zu sagen, da wäre er gleich draußen gewesen. „Er hat was dazwischen gewählt“, sagt sie.

Die Mietze schläft auf dem Kratzbaum. Die Wellensittiche zwitschern. In der „Tagesschau“ laufen die ersten Meldungen – aus Jugoslawien.

„Ich habe mich früher nie mit Politik beschäftigt“, sagt Claudia Clemens. „Ich fand das eher langweilig, wenn Politiker geredet haben.“ Der „Tagesschau“-Sprecher bestätigt die vierte Angriffswelle. Sie sagt: „Der Krieg in Jugoslawien war bei Mark und mir nie ein Gesprächsthema. Ich habe mich nie für das Land interessiert. Jugoslawien ist weit weg. Ich kenne da niemanden. Ich will da nicht hin.“

Vom CD-Ständer purzeln die Holzleitern für die Wellensittiche. Aus dem Fernsehen tönt es: „Die Gefahr für die deutschen Soldaten wird als gering eingeschätzt.“ Sie sagt: „Auf genau so was wartet man.“ Um 20.11 Uhr ist die Jugoslawien-Berichterstattung beendet. Unterm Fernseher warten Vidoes, „Titanic“, „König der Löwen“, „Apollo 13“.

In Schneeberg kümmert man sich um die Angehörigen. Die Familienbetreungsstelle in der Jägerkaserne ist rund um die Uhr besetzt, Bürgermeister Stimpel (CDU) kann jederzeit angerufen werden. Stimpel schätzt seine Bundeswehr, sie ist ein Wirtschaftsfaktor für die Stadt. 130 Schneeberger arbeiten in der Kaserne, viel mehr leben von ihr. Stimpel hat angekündigt, nach Makedonien fliegen zu wollen.

Morgen wird Claudia Clemens wieder mit Mark telefonieren. Sie wird sagen, daß diese Woche die Auslegware endlich kommt.

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Reuters, 21.10 Uhr: „Albanien meldet 20.000 Flüchtlinge aus dem Kosovo“

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Wenn Soldaten sich ihren Seelsorger wünschen dürften, würde er gewiß wie Konrad Meyer, 60, ausfallen. Ein netter, älterer Herr mit Verständnis für alle und alles, bedacht auf ausgleichende, wohlwollende Worte, nur nicht provozieren, nur nicht anecken. Seit drei Jahren ist Konrad Meyer „im Nebenamt“ evangelischer Soldatenseelsorger in der Jägerkaserne Schneeberg. Er sagt, es sei „ein Abenteuer“.

Es hat angefangen zu regnen. Überm Erzgebirge hängen Nebelschwaden. Von Schneeberg bis nach Bärenwalde, zu Konrad Meyers Pfarrhaus, sind es gute 15 Kilometer. Wählt man einen Schleichweg, „und den kennen die Soldaten“, sind es „10,1 Kilometer“. Er bittet herein.

Im Christenlehreraum hängen lustige Kinderzeichnungen und Plakate. Auf einem steht: „Wendet euch zu mir, so werdet ihr gerettet.“ Im Schrank liegen Bibeln für Kinder, in der Ecke steht ein Klavier, auf dem Tisch ein kleiner Blumenstrauß. Konrad Meyer fragt, ob Tee recht sei.

„Die lutherische Theologie“, beginnt er vorzutragen, „nimmt jeden Beruf ernst. Da gibt es den Henker und den Richter.“ Da gibt es also auch den Soldatenpfarrer, schließlich gibt es auch eine Armee. „Ich finde es zwar fürchterlich“, merkt er an, „daß es eine Armee geben muß, aber es gibt eine.“ Das sei eine Tatsache. Auch, daß der Beruf des Soldaten „nicht grundsätzlich etwas Abscheuliches“ ist, daß Soldaten „aufgeschlossene junge Männer“ sind, die „mit einer gesunden Aggressivität“ am Gespräch teilnehmen.

Leise öffnet sich die Tür. Seine Frau bringt Tee, grünen Tee.

Wenn man Konrad Meyer eine Weile zuhört, was er zum Töten zu sagen hat, zum Krieg und zum Gottesdienst in der Kaserne, könnte man meinen, der Herr Soldatenpfarrer sei geklont worden. Zum Töten merkt er an: „Es gibt ein Töten, daß Töten verhindert. Das ist die Absicht der jetzigen Mission im Kosovo.“ Zum Krieg: „Die Technik, die in diesem Krieg eingesetzt wird, hat den Vorteil, daß man den Schaden relativ begrenzen kann. Die Wehrmacht hat damals doch einfach losgeballert.“

Zum Rechtsextremismus in der Bundeswehr sagt er: „Menschenverachtende Äußerungen beobachte ich mehr außerhalb der Kaserne.“ Ende 1997 waren Videos aufgetaucht, gedreht in der Schneeberger Kaserne. Soldaten hoben unter Aufsicht von Vorgesetzten die Hand zum Hitlergruß, ein Interview zur Judenvernichtung wurde geführt, gegenseitig klatschten sie sich an Spinde. Kommentar: „Das macht man mit Zecken.“

Zum Gottesdienst sagt Meyer: „Seit Weihnachten habe ich einen einzigen Gottesdienst in der Kaserne gehalten.“ Immer sei etwas dazwischengekommen: Meistens waren es Marschbefehle.

Konrad Meyer bittet um einen Moment Geduld. Er verläßt den Raum, kommt zurück mit zwei Farbfotos. Sie zeigen einen Gottesdienst während einer Truppenübung. Katholischer und evangelischer Pfarrer halten ihn gemeinsam. Konrad Meyer spricht von einer Mission, die er zu erfüllen hat: „Mit jungen Leuten, die in der DDR aufgewachsen sind, ins Gespräch zu kommen, Soldaten das Gespräch anzubieten.“ Wo? Natürlich im Schulungsraum. Natürlich in Bärenwalde. Und in Kürze im eigenen Dienstzimmer in der Kaserne. Ein solches wird dem Seelsorger eingerichtet. Endlich.

Es ist Krieg. Schneeberger Soldaten sind in Makedonien stationiert. Auf den Einsatz seien sie vorbereitet worden, heißt es. Durch Schulungen: Schießen lernen; lernen, wie mit der Mentalität der Leute vor Ort umzugehen ist; lernen, wie Frauen behandelt werden müssen. Sind die Soldaten moralisch reif für den Einsatz? „Sind sie nicht“, sagt Konrad Meyer. Seine Ansprüche hatte er so formuliert: „Ich möchte, daß das schreckliche Geschäft des Tötens, um Leben zu erhalten, von Menschen ausgeführt wird, die eine hohe ethische Haltung haben.“

Mit grenzüberschreitenden Vergeltungsschlägen hat mittlerweile Milošević gedroht. Vorstellbar, daß auch die 3.000 deutschen Soldaten hinter der Kosovo-Grenze Ziel der Belgrader Angriffe werden könnten. Wie ist die Stimmmung unter den Zuhausegebliebenen? Müßten Sie nicht mit denen reden? „Es könnte sein, daß Sie recht haben“, sagt Konrad Meyer – dann schweigt er.

Er darf reden, am 11. April. Eingeladen sind die Angehörigen der in Makedonien stationierten Soldaten. Schon dreimal haben Verantwortliche der Jägerkaserne bei ihm nachgefragt, ob er auch wirklich komme an diesem Tag. Schließlich wird mit besorgten Müttern und Frauen gerechnet. „Natürlich komme ich“, versicherte Konrad Meyer. Stets höflich – auch wenn man vergessen hatte, ihn an jenem Tag einzuladen, als die Soldaten Richtung Makedonien verabschiedet wurden.

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Reuters, 23.41 Uhr: Serben-Radio: „90 Militäreinrichtungen getroffen“